Spieleprojekt soll autistischen Kindern helfen

Schwabing · Schach als Brücke

Arno Bellenzin und weitere Verantwortliche der Autismus Initiative wollen  autistische Menschen mehr integrieren.	Foto: scy

Arno Bellenzin und weitere Verantwortliche der Autismus Initiative wollen autistische Menschen mehr integrieren. Foto: scy

Schwabing · Man muss nicht sprechen, wenn man nicht will. Man muss sein Gegenüber auch nicht unbedingt anschauen. Es genügt, die Augen auf das Spielbrett mit seinen 64 Feldern zu richten und Zug um Zug auszuführen. Schach ist quasi eine wortlose Brücke von Mensch zu Mensch.

Und das erleichtert es vor allem für solche, die nicht gerade mit großem Hallo auf andere zustürmen, sondern eher zurückhaltend sind. Und weil es den meisten Menschen mit Autismus besonders schwer fällt, in Kontakt zu gehen, gibt es seit Ende Juli das Münchner Schachtraining für Autismus-Betroffene. »Mit unserem Schachprojekt möchten wir Menschen mit Autismus dabei unterstützen, soziale Kompetenzen auszubauen und ihre Freizeit aktiv zu gestalten«, sagt Arno Bellenzin von der Autismus Initiative, die in Schwabing ihren Sitz hat.

Nicht nur Erwachsene dürfen sich davon angesprochen fühlen: Am Donnerstag, 3. November, findet zum ersten Mal ein Schachtraining für Kinder und Jugendliche mit Autismus statt. Von 14 bis 18 Uhr werden die jungen Teilnehmer in die Geschichte des Spiels, in die Aufgaben und Möglichkeiten der einzelnen Figuren und in weitere, große Geheimnisse des Schachspiels eingeweiht. Ideal für Anfänger, aber auch für solche, die ihre Kenntnisse vertiefen möchten. Die spielerische Anleitung erfolgt durch erfahrene Schachprofis, wie beispielsweise Schachgroßmeister Stefan Kindermann. »Zum einen gilt es, bei jedem Zug anspruchsvolle Probleme zu lösen, das Denken zu trainieren und kreativ zu sein. Zum anderen steht ein Mensch auf der anderen Seite des Schachbretts. Mit ihm treten wir über das Medium Schach in einen intensiven Austausch«, so Kindermann, der auch Mitbegründer der Münchner Schachakademie ist, wo die Veranstaltung stattfindet.

Das Schachtraining ist ein Gemeinschaftsprojekt der Münchner Schachakademie und des Autismuskompetenzzentrums Oberbayern. Finanziert wird das Projekt durch den Förderverein Autismus Initiative mit Unterstützung einer Sportlerstiftung. Anderswo in Europa wurde die Sache bereits ausprobiert. »In Holland gab es schon sehr erfolgreiche Schachprojekte mit Autismus-Betroffenen, mit den dortigen Initiatoren stehe ich in Verbindung«, berichtet Kindermann. Nach diesem erprobten Modell fanden bereits zwei Workshops in der Münchner Schachakademie statt, zunächst mit erwachsenen Autismus-Betroffenen. »Die Entwicklung ist bisher sehr positiv, die Rückmeldungen der Teilnehmer waren durchwegs gut«, so der Schach-Experte. »Die einzig noch zu lösende Aufgabe besteht nun darin, möglichst viele potentielle Teilnehmer zu erreichen, denn noch gibt es leider einige Berührungsängste.« Denn sehr selten ergreifen ­­­Betroffene von sich aus die Initiative und sagen: »Da gehe ich jetzt hin.« Um es Interessierten zu erleichtern, können diese deshalb auch Freunde und Familienmitglieder mitbringen. »Besonders Kinder mit Autismus leben oft noch sehr abgeschottet«, sagt Arno Bellenzin. Da löse jeder Schritt nach draußen, raus aus dem gewohnten Umfeld, große Angst aus.

Aufklärung durchs Fernsehen

Die Gesellschaft macht es Betroffenen immer noch nicht besonders leicht. Durch TV- und Kinofilme wie etwa »Rainman« ist Autismus zwar inzwischen bekannter und nicht mehr so abstrakt. Aber immer noch grassieren falsche Vorstellungen. »Es existieren viele Vorurteile und eine große Hemmschwelle«, so Bellenzin. Doch es gebe keinen Grund, Menschen mit Autismus auszuschließen. »Autismus ist keine ansteckende Krankheit.« Noch aber würden Eltern, deren Kinder betroffen sind, häufig im Verborgenen bleiben. »Viele schweigen aus Angst, isoliert und abgelehnt zu werden«, sagt Bellenzin. Kein Wunder, dass es keine genauen Zahlen gibt, wie viele Menschen mit Autismus in Deutschland leben. Die Dunkelziffer ist hoch. Während man noch vor wenigen Jahren davon ausging, dass Autismus sehr selten ist, zeigen neuere Untersuchungen höhere Zahlen. Experten schätzen, dass 10 bis 40 Autisten auf 10.000 Kinder kommen. Dabei sind Jungen häufiger von Autismus betroffen als Mädchen, im Verhältnis 4:1.

Die erste detaillierte Fallgeschichte eines Kindes, das man heute als autistisch bezeichnen würde, hat im Jahre 1799 der französische Arzt Jean Itard beschrieben mit dem »wilden Jungen von Aveyron«. Den Begriff Autismus, von griechisch Selbstbezogenheit, nannte 1911 erstmals Eugen Bleuler. Der Züricher Psychiater bezeichnete damit »die Loslösung von der Wirklichkeit zusammen mit dem relativen oder absoluten Überwiegen des Innenlebens«. Oder anders gesagt: den Rückzug in die eigene psychische Welt. Die Ursachen sind bis heute nicht endgültig erforscht. Von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird Autismus als eine tief greifende Entwicklungsstörung klassifiziert. Die ersten Symptome lassen sich in verändertem Sprachverhalten, auffälligen Kommunikationsmustern und stark reduziertem Kontaktverhalten feststellen. Auffällig können unter anderem auch Spiel- und Bewegungsabläufe und die Reizverarbeitung von Geräuschen, Gerüchen und Tönen sein. Menschen mit Autismus haben häufig besondere Interessen, Fertigkeiten und Begabungen, oft sind sie auch hochintelligent.

Es muss nicht immer gleich Autismus sein

Doch Vorsicht vor übereilten Diagnosen. »Ist ein Kind besonders schüchtern und gleichzeitig in Mathematik besonders herausragend, muss es nicht automatisch autistisch veranlagt sein«, sagt Bellenzin. Verunsicherte Eltern finden Hilfe im Autismuskompetenzzentrum (Autkom) an der Eisenacherstraße 10. Die Beratungsleistungen werden kostenlos zur Verfügung gestellt, mit Ausnahme der ärztlichen Beratung, die über die Krankenkasse abgerechnet werden. Zudem ist es möglich, den Familienentlastenden Dienst (FeD) zu nutzen. Und die 2009 gegründete Autismus Initiative greift dort unter die Arme, wo keine allgemeinen finanziellen Mittel gestellt werden. Das große, gemeinsame Ziel ist es laut Bellenzin, einen Ort zu schaffen von Autisten für Autisten. »Wir wollen mithelfen, dass sie ihren Weg in ein selbstbestimmtes Leben finden.« Betroffene, aber auch Angehörige sollen sich zum Austausch, zu Kursen und zu Seminaren treffen können. Möglich gemacht werden sollen auch Vernissagen und ein Internetcafé – und weiterhin das Schachtraining. »Solche Projekte bringen uns alle ein Stück weiter«, sagt Bellenzin. »Rollstuhlfahrer haben in dieser Stadt immer weniger Barrieren. Es ist Zeit, dass auch die Barrieren autistischen Menschen gegenüber verschwinden.« Weitere Informationen zum Schachprojekt am 3. November gibt es unter Tel. 45 22 58 70 oder im Internet unter www.autismus-initiati ve.de. Anmeldeschluss ist der 28. Oktober. Die Teilnahme ist kostenfrei. Der Verein Autismus Initiative freut sich jederzeit über Spenden: Kontonummer 6 54 16 85 20, HypoVereinsbank München, BLZ 700 202 70. Sylvie-Sophie Schindler

Artikel vom 25.10.2011
Auf Facebook teilen / empfehlen Whatsapp

Weiterlesen





Wochenanzeiger München
 
Kleinanzeigen München
 
Zeitungen online lesen
z. B. Samstagsblatt, Münchener Nord-Rundschau, Schwabinger-Seiten, Südost-Kurier, Moosacher Anzeiger, TSV 1860, ...