Jugendliche prüften Kirchheim auf »Herz und Rampen«

Kirchheim · Nur ein Planspiel?

Nur vier Stufen, aber für Rollstuhlfahrer ohne Hilfe unüberwindbar: Das Kirchheimer Rathaus ist in Sachen Barrierefreiheit schwer im Rückstand. 	Foto: Schabmair

Nur vier Stufen, aber für Rollstuhlfahrer ohne Hilfe unüberwindbar: Das Kirchheimer Rathaus ist in Sachen Barrierefreiheit schwer im Rückstand. Foto: Schabmair

Kirchheim · »Puh ist das anstrengend! Ich kann nicht mehr!« Der 12-jährige Marc sitzt in einem Rollstuhl. Er trägt fingerlose Handschuhe und kämpft mit den Greifreifen auf beiden Seiten. Marc sieht stark aus für sein Alter, aber die kraftraubende Art der Fortbewegung ist er nicht gewohnt.

»Du wirst morgen vor allem im Nacken ziemlichen Muskelkater haben.« Marie-Luise Hess vom Projekt »Auf Herz und Rampen prüfen« vom Kreisjugendring (KJR) München-Stadt kennt sich aus. In München begleitet sie oft Kinder und Jugendliche zum Barrierecheck durch die Münchner Stadtteile. Die Ziele: Missstände aufdecken, Verbesserungen anstoßen und Veränderungen bei den Politikern einfordern. Ganz nebenbei sollen die jungen Leute sensibilisiert werden für die Belange von Menschen mit Behinderungen.

Marie-Luise Hess ist zum ersten Mal außerhalb des Stadtgebietes unterwegs. Das Soziale Netz Kirchheim, ein informeller Zusammenschluss von über 20 Vereinen und Initiativen, die in der Gemeinde Kirchheim im sozialen Bereich tätig sind, hat sie eingeladen. Peter Möws, der Sprecher des Netzes: »Es ist mehrfach der Wunsch an uns herangetragen worden, den öffentlichen Bereich der Gemeinde auf Barrierefreiheit zu überprüfen.« Am vergangenen Montag war es soweit. Im Blickpunkt: der Pfarrer-Caspar-Mayr-Platz in Kirchheim, das Räter Zentrum (REZ) und der S-Bahnhof in Heimstetten. Mit dabei: sieben Jugendliche der Grund- und Hauptschule Kirchheim an der Heimstettner Straße. Eine der ersten Anlaufstellen: das Kirchheimer Rathaus am Pfarrer-Caspar-Mayr-Platz. Vier Stufen muss dort hinaufsteigen, wen seine zwei Beine tragen. Die 13-jährige Sabrina dagegen muss auf Hilfe hoffen, denn heute sitzt sie im Rollstuhl. Und keine Rampe weit und breit – Barrierefreiheit sieht anders aus. Julia (12) muss von der Schulsozialpädagogin Constanze Ladner geführt werden. Hilflos tastet sich Julia mit ihrem Blindenstab am Bahnsteig der S-Bahnstation Heimstetten entlang. Ihre Augen sind mit einer dickwattierten »Blindenbrille« bedeckt. Mehr Erfahrung mit dieser gefährlichen Situation hat Helmut Längl. Der Münchner ist aufgrund einer Krankheit seit zehn Jahren blind. »Am Bahnsteigrand wären Rillen, die man mit dem Stock ertasten oder an den Füßen spüren kann, ganz wichtig.« Oft sind es nur Kleinigkeiten, die den Behinderten das Leben unnötig schwer machen. Wie etwa kommt man zum Schlüssel der Behindertentoilette im REZ? Nirgendwo ein Hinweis darauf.

Auch Christian Holzner von der Gemeindeverwaltung machte den Rundgang mit, und einige Gemeinderäte sind der Einladung des Sozialen Netzes gefolgt, um hautnah mit zu bekommen, wo es hakt in Sachen Barrierefreiheit in Kirchheim. Susanne Merten-Wente (NU): »Wir müssen mehr in die Details gehen, mehr die Belange der Betroffenen berücksichtigen, öfter auch Kompromisse eingehen in Sachen ›was sieht schöner aus‹. Das heute war nicht nur ein Planspiel, sondern Realität.« Auch Gemeinderat Anton Feuerecker (VFW) zeigt sich beeindruckt: »Ich habe viele neue Erkenntnisse gewonnen.«

Marie-Luise Hess vom Münchner KJR-Projekt »Auf Herz und Rampen prüfen« wird die gesammelten Erfahrungen und daraus abgeleiteten Verbesserungsvorschläge in einem Bericht zusammenstellen und diesen der Gemeinde zur Verfügung stellen. Hess: »Zwei Erlebnisse waren für die Teilnehmer und die Gemeinderäte besonders prägend: Die Bepflasterung des gesamten Pfarrer-Caspar-Mayr-Platzes ist nicht barrierefrei. Sowohl das Großsteinpflaster, als auch das Kleinsteinpflaster sind nicht erschütterungsarm und die Fugen so groß, dass man mit dem Rollstuhl und dem Blindenlangstock hängen bleibt.« Außerdem: »Auch die S-Bahn Station Heimstetten ist nicht barrierefrei. Auf beiden Bahnsteigen befinden sich Rampen, um jeweils vom Bahnsteig auf den entsprechenden Park & Ride-Parkplatz zu kommen und weiter zu Bus und Ort. Jedoch gibt es keine geeignete Rampe um unter oder über die Gleise zu gelangen. Mindestens einmal (bei Hin- und Rückfahrt mit der S-Bahn) muss ein sehr langer und beschwerlicher Weg auf sich genommen werden. Zudem ist der Bahnhof nicht mit einem Blindenleitsystem ausgestattet und sollte nachgerüstet werden. Der Bahnhof besitzt zudem kein Notrufsystem.« Viel zu tun also in der Gemeinde. Soziales Netz-Sprecher Peter Möws: »Wir hoffen, dass wir unserem Ziel, die Gemeinde noch ein Stückchen besser zu machen, näher gekommen sind.«

Gabriele Heigl

Artikel vom 12.07.2011
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