Schüler erkunden, wie behindertengerecht ist mein Viertel

Harlaching/Giesing · Barrieren entdecken

Das Überqueren einer Straße kann trotz Zebrastreifen ein aufregendes Unterfangen werden, wenn man nichts sehen kann. 	Foto: mst

Das Überqueren einer Straße kann trotz Zebrastreifen ein aufregendes Unterfangen werden, wenn man nichts sehen kann. Foto: mst

Harlaching/Giesing · Was tun, wenn die Bordsteinschwelle für den Rollstuhl zur unüberwindlichen Barriere wird? Wenn die Finger des Blinden hilflos über die Zahlen-Tastatur der Telefonzelle gleiten und den richtigen Knopf nicht finden?

Solchen und anderen Fragen, mit denen behinderte Menschen tagtäglich zu kämpfen haben, gingen Schüler der Grundschule am Agilolfingerplatz einen Vormittag lang im Rahmen des Projekts »Stadtteilchecks – auf Herz und Rampen prüfen« nach.

Unterstützt von Lehrern, Behinderten und Mitarbeitern des Kreisjugendrings München-Stadt (KJR), betätigten sich die auf drei Gruppen aufgeteilten 21 Kinder als »Stadtteil-Inspektoren« und erkundeten ihren Bezirk auf die Gefahrensituationen für Behinderte. Nachdem die Leiterinnen einer der Gruppen, die KJR- Pädagoginnen Marie-Luise Hess und Frauke Gnade, ihre Zöglinge mit Augenbinden, Blindenstöcken, Simulationsbrillen und Rollstühlen ausgestattet und vertraut gemacht haben, ging es los: Knapp vier Stunden dauerte der Check rund um die Schule. »Dabei erfahren sie, mit welchen Barrieren Menschen mit Behinderungen im Alltag umgehen müssen und mit welchen Sinnen sie sich orientieren können«, umriss Hess das Projektziel. Und die Gefahren lauern, wie sich schnell zeigt, an jeder Ecke.

Noch nicht einmal zehn Meter von dem Gebäude entfernt hatten die Kinder bereits mit dem ersten Widerstand zu kämpfen. Es galt, den Zebrastreifen zu überqueren, um über den Agilolfingerplatz zur Konradinstraße zu gelangen. Doch der kleine Valentin, der wegen der Augenbinde nichts sieht, zögert: Mit dem Blindenstock in der Hand stochert er hilflos auf dem Bürgersteig herum. Er weiß nicht, wann und wo er abbiegen muss. Wo genau verläuft die Fahrstraße? Ganz schwindlig wird ihm bei dem Autolärm, dessen diffuse Richtung sich nicht einordnen lässt. Jetzt wird es brenzlig, ängstlich bleibt er stehen. Hess klärt ihn darüber auf, worauf er unbedingt zu achten hat. »Du musst den Stock ganz langsam in Richtung Straße schieben. Spürst du die Absenkung?«, fragt sie den Jungen.

Die Schwelle, erläutert die Sozialarbeiterin weiter, müsse ungefähr drei Zentimeter betragen. Würde der Gehsteig ohne jede Kennzeichnung unmittelbar in den Asphalt übergehen, könnte das für Blinde tödliche Folgen haben: »Dann wissen sie ja nicht, wo das eine aufhört und das andere beginnt. Das wäre fatal.« Höher darf die Barriere allerdings auch nicht sein – sonst hätten wiederum Rollstuhlfahrer keine Chance, die Straße zu überqueren. Mit ihrer Hilfe gelingt es ­Valentin im Zeitlupentempo, sich von Streifen zu Streifen vorwärts zu tasten und schließlich den gegenüberliegenden Gehweg zu er­reichen. Auf diese Weise hangelte sich die Gruppe aus »Rollstuhlfahrern« und »Blinden« weiter von Gebäude zu Gebäude, von Straße zu Straße. Probleme lauern einfach überall stellen die Kinder erstaunt fest.

Die Telefonzelle am Agilolfingerplatz beispielsweise kann nicht aufgesucht werden, weil der Rollstuhl zu groß und sperrig ist. Altglas kann Maria, die im Rollstuhl sitzt, nicht in die Wertstoffcontainer werfen, weil die Öffnungsschlitze zu hoch angebracht sind. Eine Zeitung kaufen? Das geht nur am Kiosk, nicht aber an den Ständen, die auf dem Grünstreifen an der Konradinstraße so ungeschickt aufgestellt sind, dass die Rollstuhlfahrer nicht an den Deckel gelangen. Geschweige denn, das Geld in den Schlitz einwerfen können. Gegen Mittag sind alle fix und fertig – aber um eine gewaltige Erfahrung reicher: »Das hat mir gereicht«, stöhnt Maria. »Jetzt weiß ich, wie schwierig es für behinderte Menschen sein muss, sich im alltäglichen Leben zurechtzufinden.« Auch für die Lehrerin der Klasse 2c, Tanja Scharfenberg, war der Tag sehr lehrreich. »Das ist echte Herzensbildung und keine Wissensvermittlung«, lobt sie das Konzept.

Die Liste an Mängeln, die die Kinder zusammengetragen haben, ist lang: So sind die Bordsteinkanten auf Höhe der Post an der Kreuzung Konradin- / Hans-Mielich-Straße nicht abgesenkt. »Ein selbstständiges Überqueren für Rollstuhlfahrer ist nicht möglich«, zieht Hess Bilanz. Bei der Arminius- / Ecke Krumpterstraße hingegen muss die Schwelle zum Bürgersteig auf drei Zentimeter erhöht werden, »da die Kante für Blinde nicht tastbar ist«, wie die KJR-Pädagogin weiter festhält. An der vielbefahrenen Pilgersheimerstraße wiederum machen die fehlenden Ampelanlagen zu schaffen: Auf der gesamten Länge von drei Bushaltestellen, hat die Gruppe herausgefunden, ist kein Übergang für Fußgänger möglich. »Erforderlich wäre eine Anlage mit akustisch-taktilen Signal«, hat Hess diagnostiziert.

Nunmehr wird sich der Bezirksausschuss 18 mit den Ergebnissen des Stadtteilchecks befassen – auch das ist ein wesentlicher Teil des Projekts »Auf Herz und Rampen prüfen«. Denn es soll etwas bewegt werden in dem Viertel: »Wir wollen die aufgedeckten Missstände an die politisch verantwortlichen Stellen weiterleiten, um Veränderung zu bewirken«, informiert Gnade.

mst

Artikel vom 19.04.2011
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