Auschwitz-Überlebender berichtet Gymnasiasten

Harlaching · Kaum vorstellbare Greultaten erlitten

Hugo Höllenreiner, Überlebender aus Auschwitz, berichtet im Albert-Einstein-Gymnasium von seinen schrecklichen Erlebnissen. 	Foto: mst

Hugo Höllenreiner, Überlebender aus Auschwitz, berichtet im Albert-Einstein-Gymnasium von seinen schrecklichen Erlebnissen. Foto: mst

Harlaching · Entsetzen, Schweigen, Fassungslosigkeit: Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so still war es im Neubau des Albert-Einstein-Gymnasiums. Dort saß der Sinti Hugo Höllenreiner und berichtete vor rund 50 Kollegiaten der K13 und der Q12 über seine Geschichte. Eine Geschichte, die direkt aus der Hölle stammen könnte.

»Nur« zwei Jahre dauert diese Geschichte, aber sie ist so vollgepackt mit unfassbaren Grausamkeiten, dass Jahrhunderte darin zu vergehen scheinen. Nach Max Mannheimer und Ignaz Bubis ist er der dritte KZ-Überlebende, der auf Einladung von Anja Sieber, Betreuerin des Fachs Geschichte, über sein Martyrium in den Konzentrationslagern der Nazis sprach.

Der heute 76-Jährige gehört der Zigeuner-Familie der Sinto an, die gemäß der NS-Ideologie »ausgerottet« werden sollten. Am Ende des Krieges waren 500.000 Angehörige der Sinti und Roma dem Rassenwahn der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen. Die Nazi-Gräuel hat Höllenreiner nur deswegen überlebt, weil er im richtigen Augenblick vor Erschöpfung zusammenbrach und die SS-Leute ihn für tot hielten. »You are free«: Das waren die ersten Worte, die der damals Elfjährige Tage später vernahm. Er verstand den Sinn nicht, »Englisch hatte ich ja nie gelernt«, wie er den Schülern schildert.

Es ist der 15. April 1945, die Alliierten haben das Konzentrationslager Bergen Belsen von den Nationalsozialisten befreit. Die SS-Offiziere sind abgezogen, zurückgeblieben ist ein Knäuel ineinander verschlungener Leichen. Gruben, gefüllt mit Toten, Skelette, ausgemergelte Häftlinge, Krematorien, Stacheldrahtzäune, die Lagerbaracken – und über allem ein unbeschreiblicher Gestank, gemischt mit einer apokalyptischen Stille: Höllenreiner war dem Tod um ein Haar entkommen. »You are free«: Mit diesen Worten eines britischen Soldaten endete ein Martyrium, das stellvertretend für das Schicksal von Millionen von Menschen steht. Höllenreiners Martyrium beginnt im März 1943, als Polizisten das Haus der Familie in der Deisenhofener Straße umstellen.

Bereits seit Jahren wird sein Vater, ein Pferdehändler, systematisch gedemütigt, als »Zigeunermischlinge mit auffälligem Einschlag von Zigeunerblut« werden auch seine fünf Kinder nicht geschont. Mit seinen Eltern und den fünf Geschwistern wird der neunjährige Hugo ins Polizeipräsidium an der Ettstraße gebracht, von dort in einen Viehwagen gepfercht und nach Auschwitz verschleppt. Das dortige »Zigeunerlager« besteht aus 30 Unterkunftsbaracken, die ursprünglich als Pferdeställe gebaut waren. In diesen »Pferdestallbaracken« waren jeweils 800 bis 1000 Menschen zusammengepfercht. Die hygienischen Verhältnisse sind nicht zu beschreiben. »Am schlimmsten sind Hunger, Durst und Kälte. Sich dagegen nicht schützen zu können, ist das Allerschlimmste«, schildert Höllenreiner. Tausende sterben an Unterernährung, Krankheiten und den Misshandlungen. Durch die Ritzen der Baracke kann der Junge die Rampe sehen, an der Züge mit unzähligen Menschen ankommen, die dann oft direkt in die Gaskammern geschickt werden. Die Höllenreiners selbst werden zu »Aufräumarbeiten« eingesetzt: Neuankömmlinge sollen nicht sofort erkennen, dass es sich hier um ein Vernichtungslager handelt. Auch der gefürchtete SS–Folterer Joseph Mengele, ist in Auschwitz und dort zuständig für das »Zigeunerlager«. Er ist berüchtigt für seine »Menschenversuche«, lässt Kinder bei lebendigem Leib foltern. Zu ihm muss auch Hugo Höllenreiner: »Ich wurde auf einen Holzbock gebunden und meine Beine weit gespreizt«, schildert er. »Sie schnallten meinen Kopf fest und setzten mir eine Art Kopfhörer aus Holz auf, damit ich nicht sehen und hören konnte, was er da unten trieb.« Es wäre ihm egal gewesen zu sterben – nur eines wollte der Knabe nicht: »Dass ich zu einem Mädchen gemacht werde.« Sollte Mengele das vorhaben, würde er schreien, so laut schreien, »dass niemand seine Arbeit weiter machen kann.« Zu einem »Mädchen« wurde er nicht operiert, dafür trieb ihm Mengele einen Stab mit geometrischen Formen unter die Haut, erzählt Höllenreiner. Er wurde ohnmächtig – und überlebte. Durch einen Trick des Vaters gelingt es der Familie, die schließlich in der Gaskammer enden sollte, Auschwitz zu verlassen. Zuerst werden sie in die Konzentrationslager Ravensbrück und Mauthausen, später nach Bergen Belsen deportiert. Dieses Lager war für ihn das Schlimmste: »Es gab nichts mehr zu essen und trinken. Überall waren nur Berge von Leichen zu sehen.« Am 15. April 1945 werden Höllenreiner, seine Mutter und seine Schwester von englischen Truppen befreit. Nie vergessen wird er den Augenblick, als er aus Lautsprechern die Durchsage hört: »You are free, ihr seid frei!«

mst

Artikel vom 21.02.2011
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