Veröffentlicht am 20.08.2014 15:46

„Mann, hast Du eine Klaue!”


Johannes Beetz
Johannes Beetz
Chefredakteur
seit 1999 bei der Gruppe der Münchner Wochenanzeiger
Mitarbeit im Arbeitskreis Redaktion des Bundesverbands kostenloser Wochenzeitungen (BVDA)
Gewinner des Dietrich-Oppenberg-Medienpreises 2017 (Stiftung Lesen)

Wir leben wie im Hamsterrad - hetzen von Aufgabe zu Aufgabe, ohne dass ein Ziel erkennbar wäre. Wir verlieren unsere Wurzeln in einer Welt, die uns Flexi- und andere „-bilitäten” abverlangt und uns mit einer unüberschaubaren Vielzahl von Möglichkeiten überschwemmt. Wir geben überholte Lebensweisen auf, ohne uns auf neue zu einigen. Wir lösen keine Probleme, sondern benennen sie einfach um: Aus blutigen Kriegen werden „Krisen” - und damit wir uns nicht wirklich um gleiche und gerechte Chancen für Frauen und Männer bemühen müssen, suchen wir Zuflucht beim Binnen-I. Zeit, dass einmal jemand „des Kaisers neue Kleider” als das benennt, was sie sind.

Wer das eine oder andere Jahr mehr als der Durchschnitt auf dem Buckel hat, blickt oft gelassener auf den nie zum Stillstand kommenden Wandel. Wir wollen den Erfahrungsschatz der Älteren teilen. Unsere „vier Trümpfe” werden an dieser Stelle künftig ihre Gedanken zu unseren Themen äußern, Dinge einordnen, einen Überblick geben.

Lesen und Schreiben

Verändert sich unser Lese- und Schreibverhalten? Wer schreibt überhaupt noch mit der Hand? Warum sind Handschrift und Lesen wichtig? Bei unserem Sommergespäch „Brennt das Lagerfeuer nieder?” suchten unsere Gäste Antworten. Auch unsere „Trümpfe” haben sich dazu ihre Gedanken gemacht.

Ingrid Appel: „Mit Worten malen”

Auf einer Busreise mit Senioren neulich war meine neben mir sitzende Freundin von der Landschaft so begeistert, dass sie ein Gedicht zitierte. Dieses gab die Schönheit der Landschaft mit wunderbaren Eigenschaftsworten wieder. Vor uns sitzende Senioren verfolgten dies und mit Begeisterung zitierten wir schließlich alle uns bekannten Gedichte (nur den Eppelein von Gailingen brachten wir nicht mehr zusammen). Jedenfalls entstand dadurch eine wunderbare Gemeinschaft mit uns bis dahin unbekannten Mitmenschen. Dies nur über die gemeinsame Sprache.

Verharren in Sprachlosigkeit?

Das Lesen bringt uns die Größe unserer Sprache, die zunächst im Elternhaus und Schule eingeschränkt ist, nahe. Man lernt mit der Sprache zu „malen“. Gefühle lassen sich durch den Reichtum unserer Sprache ausdrücken. Man denke an die erhaltenen Liebesbriefe: Wie gerne liest man sie immer wieder.

Bei Problemen in Beziehungen ist oftmals die „Sprachlosigkeit“ schuld, weil man nicht gelernt hat, sich auszudrücken. Es fehlen einem die Worte! Auch uns berührende Liedtexte bleiben uns jahrelang in Erinnerung (mein Englisch besteht hauptsächlich aus den Texten von Elvis-Liedern).

Wenn es so ist, dass ein großer Teil des Gehirns durch die Handschrift aktiviert wird, dann ist es verständlich, dass wir den Drang der Jugendlichen zum Graffiti malen in andere Bahnen lenken sollten. Wie ist es mit Tagebuchschreiben? Wird das noch gemacht? Man kann beobachten, dass Insbesondere Frauen vermehrt ihre Erlebnisse, Lebenserfahrungen und Fantasiegeschichten in Buchform schreiben (und händeringend dafür Verleger suchen).

Aus all diesen Gedanken lässt sich erahnen, wie wichtig für unser Zusammenleben die Erfahrungen des Lesens und Schreibens sind, um miteinander kommunizieren zu können und nicht in Sprachlosigkeit zu verharren.

Winfried Bürzle: „Wir brauchen diese Bilder”

„Mann, hast Du eine Klaue!” Nein, ich meine nicht Sie, liebe Leserin oder lieber Leser. Nein, das war ein Zitat von mir und an mich selbst gerichtet. Eine selbstkritische, fast zornige Feststellung, die mir dieser Tage entfahren ist, als ich meine eigene Handschrift begutachtet habe.

Ich schreibe gerade an einem Buch. Nicht ganz gewaltlos. Denn absolut zeitgemäß „hacke“ ich die Wörter und Zeilen in meinen PC nur so hinein. Aber hin und wieder schießt mir in dem Moment ein Gedanke in den Kopf, in dem der PC schon längst „herunter gefahren“ ist. Dann greife ich eben schnell zum Kugelschreiber, damit der Gedanke nicht verloren geht. In genau solch einer Situation habe ich feststellen müssen, dass sich meine Handschrift mittlerweile bei weitem nicht mehr so schnell „hochfahren“ lässt wie mein PC runter. Im Gegenteil: Mein Schreibprogramm im Hirn hat sich offenbar aufgehängt, die Software ist blockiert und jagt bei Gebrauch meine CPU auf Volllast!

„Übersetzte” Bilder

Es macht mir Sorgen. Ist es nicht die ausgefeilte Kommunikationsfähigkeit, die uns Menschen von anderen Lebewesen abhebt? Ist es neben einer ausgereiften Sprache nicht vor allem die schriftliche Verständigung, die uns so auszeichnet? Zwar verfügen auch viele Tiere über eine Art von „Sprache“ (zumindest in Form primitiver Verständigungslaute). Aber beim Schreiben habe ich wirklich noch kein Tier beobachtet.

Die Ursprünge der Schrift liegen Tausende von Jahren zurück. Sie ist aus Piktogrammen entstanden, einer Art Bilderschrift. Die Handschrift ist nichts anderes als „übersetzte“ Bilder. Wir Menschen brauchen diese Bilder, nicht nur die Kinder, auch wir Erwachsene. Und dass „mit der Hand schreiben“ unser Gehirn ordentlich auf Trab hält, das hat die Wissenschaft längst bewiesen.

Mit der „Feder” schneller verstehen

Ich für meinen Teil habe das an sich schon kapiert. In meinen Seminaren rechtfertige ich die „Verweigerung“ von schriftlichen Unterlagen immer mit dem Hinweis auf eine didaktische Erkenntnis: Was einmal durch die „Feder“ geflossen ist, das ist bereits zur Hälfte gelernt.

Wird Zeit, dass ich meine „Weisheiten“ selbst verinnerliche. Und so nebenbei mit der Übung auch wieder einen Charakter in meine Handschrift bekomme. Vielleicht ernte ich dann auch wieder mal ein Kompliment, das auf mich selbst einzahlt und nicht auf die Designindustrie: mal wieder ein „Mann, hast Du eine tolle Handschrift“ statt einem „Mann, hast Du eine geile Tastatur!“

Ulrike Mascher (VdK-Präsidentin)

Winfried Bürzle (Bayerischer Rundfunk)

Ingrid Appel (Seniorenbeirätin Hadern)

Helmut Zöpfl (Prof. für Schulpädagogik)

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