70. Jahrestag »Reichskristallnacht: Gedenkveranstaltung in Bogenhausen

Bogenhausen · Menschen und Namen

Auch die Familie Kaufmann verlor in der »Reichskristallnacht« ihr Zuhause in der Möhlstraße 21. Heute wird das Anwesen von der Burschenschaft »Danubia« genutzt. Foto: Jüdische Kultusgemeinde/Karl Hirt

Auch die Familie Kaufmann verlor in der »Reichskristallnacht« ihr Zuhause in der Möhlstraße 21. Heute wird das Anwesen von der Burschenschaft »Danubia« genutzt. Foto: Jüdische Kultusgemeinde/Karl Hirt

Bogenhausen · Vor 70 Jahren versank die jüdische Gemeinschaft in Verwüstung, Terror und Tod. Synagogen in ganz Deutschland wurden zerstört, Geschäfte und Wohnhäuser gingen in Flammen auf, rund 400 Menschen wurden ermordet und 30.000 in Konzentrationslager verschleppt. Zum Gedenken an die Reichspogromnacht finden am 9. November in ganz München Gedenkveranstaltungen statt.

In Bogenhausen werden an der Gedenktafel vor der Dreieinigkeitskirche in der Wehrlestraße 8 von 11.30 bis 13.30 Uhr die Namen der ermordeten und deportierten Bogenhauser Juden vorgelesen. »Es gibt unheimlich viele Schicksale jüdischer Bogenhauser, die es gilt, nicht zu vergessen«, sagt Paula Sippl.

Die Vorsitzende des Unterausschusses Kultur im Bezirksausschuss (BA) Bogenhausen wird zusammen mit ihren BA-Kollegen und Gemeindemitgliedern die Namen verlesen. »Aber natürlich freuen wir uns über jeden Besucher, der ebenfalls Namen und ehemaligen Wohnort der deportierten und getöteten Bogenhauser vorlesen möchte«, sagt Sippl. Auch der Leistungskurs Geschichte des Wilhelm-Hausenstein-Gymnasiums wird einen Teil der insgesamt 900 Namen verlesen. Darunter werden sich auch die Namen Julius, Luise und Bruno Kaufmann befinden.

Die zum lutherisch-evangelischen Glauben konvertierten Juden lebten in der Möhlstraße 21. Die Familie wurden mit Inkrafttreten der »Rassengesetze« als »Juden« definiert. In der Folge wurden dem Bankdirektor Aktien geraubt, er durfte seinen Beruf nicht mehr ausüben und schließlich vertrieb man die Familie auch aus ihrem Haus. Das Ehepaar verübte 1940 gemeinsam mit dem Sohn Bruno Selbstmord. 1957 kaufte die Burschenschaft »Danubia«, der eine rechtsextreme Gesinnung nachgesagt wird, die Villa in der Möhlstraße 21.

In den vergangenen Jahren fanden die Gedenkveranstaltungen immer zentral im Rathaus statt. »Zum 70. Jahrestag sind wir an die BA’s herangetreten, um die Stadtteile stärker miteinzubeziehen«, erklärt Dr. Anne-Barb Hertkorn, Leiterin der Namenslesung vom organisierenden Verein »Gegen Vergessen – Für Demokratie«. Und alle Münchner BAs haben zugesagt.

Als »spontaner Volkszorn« und Reaktion auf die Ermordung des Diplomaten Ernst Eduard vom Rath durch einen Juden verkaufte das NS-Regime die Reichspogromnacht den Deutschen und der Welt. Dass es vielmehr um die Beschleunigung der gesetzlichen »Arisierung« ging, versuchte man zu verbergen. Mit der Zwangsenteignung jüdischen Besitzes und Unternehmen versuchte man die Staatsverschuldung zu verringern und die Kriegsvorbereitung zu finanzieren.

Dass es sich nicht um spontane judenfeindliche Aktionen handelte, beweisen auch Telegramme, in denen Propagandaminister Goebbels untergeordnete Behörden dazu anwies, sämtliche jüdischen Geschäfte zu zerstören, Wertgegenstände einzusammeln, Synagogen in Brand zu setzen und jüdische Symbole sicherzustellen. Gleichzeitig wurden die Feuerwehren und Polizeistationen angewiesen, nicht einzugreifen, sondern lediglich die Nachbargebäude zu schützen. Im Anschluss an die verordnete Zerstörung wurden insgesamt rund 30.000 Juden verhaftet und in KZ’s deportiert – die meisten von ihnen junge, wohlhabende Männer. Der Bevölkerung verkaufte man die Verhaftungen als »Wiederherstellung der Ordnung«.

Die Reaktionen aus dem Ausland auf die Pogrome beschränkten sich auf Protestschreiben. Die Amerikaner zogen ihren Botschafter aus Berlin ab. Die Deutschen waren in der Mehrzahl schweigende Schaulustige. Mancher Orts beteiligten sie sich auch an den Zerstörungen und Plünderungen der jüdischen Geschäfte.

Auch von Seiten der Kirche kam bis auf wenige Ausnahmen kein Wort des Protestes. Als Gründe werden hierfür die meist deutschnationale Einstellung und der traditionelle Anti-Judaismus vieler Pfarrer genannt. Alle Münchner, die am 9. November durch ihre aktive oder passive Teilnahme an der Namenslesung ein Zeichen gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus setzen wollen, sollten zu den Lesungen in ihren Stadtvierteln gehen. Andrea Koller

Artikel vom 04.11.2008
Auf Facebook teilen / empfehlen Whatsapp

Weiterlesen





Wochenanzeiger München
 
Kleinanzeigen München
 
Zeitungen online lesen
z. B. Samstagsblatt, Münchener Nord-Rundschau, Schwabinger-Seiten, Südost-Kurier, Moosacher Anzeiger, TSV 1860, ...