Erstmals beleuchtet ein Buch die Geschichte(n) der »Schwabinger Krawalle«

Schwabing · Der Geist auf der Straße

Die »Auslöser« der Schwabinger Krawalle: Wolfram Kunkel, Sitka Wunderlich und Michael Erber (v.l.) am Donnerstagabend bei der Buchpräsentation.	Foto: ms

Die »Auslöser« der Schwabinger Krawalle: Wolfram Kunkel, Sitka Wunderlich und Michael Erber (v.l.) am Donnerstagabend bei der Buchpräsentation. Foto: ms

Schwabing · Wenn dieser Tage Zigtausende im Fußballtaumel mitten auf der Leopoldstraße friedlich feiern, sperrt die Polizei die Fahrbahn für den Verkehr, schaut weitgehend wohlwollend zu und setzt auf »kommunikative Konfliktlösung«.

Schwabing 1962 - »Schwabinger Krawalle«

Als an einem heißen Juniabend vor 44 Jahren ein paar hundert Studenten und Schüler die Leopoldstraße belagern, um Straßenmusikern zu lauschen, endet das in einem fünftägigen Massenaufruhr – den die Münchner Polizei durch ihr unangemessen brutales Vorgehen mittels Gummiknüppel und Reiterstaffel erst richtig provoziert.

Darüber herrscht heute einstimmige Klarheit, aber ansonsten kursieren Mythen, verzerrte Erinnerungen und Fehlinterpretationen um die »Schwabinger Krawalle«, der bis dato größten Straßenunnruhen in der Geschichte der Bundesrepublik.

Licht ins Dunkel will nun ein neues Buch bringen, das am vergangenen Donnerstag in der bis zum Platzen gefüllten Buchhandlung Lehmkuhl präsentiert wurde. Zu Gast waren unter anderem auch die Auslöser der Krawalle, die Straßenmusiker. In »Schwabinger Krawalle« (Klartext Verlag, 22,90 Euro) werfen Herausgeber Gerhard Fürmetz vom Bayerischen Hauptstaatsarchiv, Jahrgang 1966, und fünf weitere junge Historiker erstmals aus verschiedenen Perspektiven einen sehr genauen Blick auf das Ereignis.

Denn, was genau passiert ist vom 21. bis 25. Juni 1962, zwischen Münchner Freiheit und Ohmstraße, wer die »Krawallmacher« waren und warum der Konflikt Nacht für Nacht immer wieder aufbrach, »da gibt es echten Aufklärungsbedarf«, sagt Fürmetz. »Unser Buch soll eine solide Aufarbeitung aus historisch-kritischer Sicht sein, aber nicht rein akademisch, sondern ein Eintauchen in die Ereignisse ermöglichen – dabei helfen 70 ausgewählte Bilder und Schriftdokumente, Fotos, Karikaturen, Flugblätter, Augenzeugenberichte und Interviews.

Das Buch untersucht auch das vielfältige Nachspiel der Krawalle, »das mindestens so interessant ist wie die Ereignisse selbst«, findet Fürmetz. Eine »Interessengemeinschaft zur Wahrung der Bürgerrechte« wurde gegründet; 400 Verfahren habe die Münchner Justiz eingeleitet, zwei Drittel gegen sogenannte Unruhestifter, während von etwa 1.000 beteiligten Polizisten nur ein einziger verurteilt wurde.

Die hohe Gewaltbereitschaft (das mit Abstand älteste Opfer war der damalige Direktor des Stadtjugendamtes, Kurt Seelmann, 62), die wahllosen Verhaftungen der Polizei erklären die Autoren mit überholten Ausbildungs- und Einsatztraditionen. Nach den Krawallen schuf die Polizei jedenfalls bundesweit den ersten psychologischen Dienst und die »Münchner Linie«, die auf selektiven und präventiven Zugriff setzt.

Eine wichtige Rolle spielte auch der damalige Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, der zwar am Donnerstag eingeladen, aber nicht erschienen war – »wahrscheinlich denkt er nicht gern daran«, so ein Kommentar aus dem Publikum. Die Stadt hatte sich nämlich nicht gerade mit Ruhm bekleckert bei der Konfliktlösung – nicht der SPD-dominierte Stadtrat, nicht Vogel, der oberste Dienstherr der damals städtischen Polizei.

»Ich mochte Vogel eigentlich, er verkörperte einen neuen, smarten Typus des Sozialdemokraten«, erzählt Erwin Tochtermann, der als Gerichtsreporter einige Krawalle-Prozesse begleitet hatte. Wegen seines laschen Verhaltens bei den Krawallen war Vogel aber »meiner Meinung nach vollkommen durchgefallen.«

Auch wenn die Autoren die »Schwabinger Krawalle« – als spontanes Straßenfest ohne politischen Hintergrund und ohne gewaltbereite Teilnehmer – nicht simpel als Vorstufe der Unruhen von 1968 sehen wollen, meint Tochtermann: »Es rumorte schon vor den Krawallen. Der Geist des Aufruhrs ist immer schon vorher da, bevor der Körper sich bewegt.«

»Das Vorgehen der Polizei damals wird zu Recht kritisiert«, sagt der Münchner Polizeibeamte Stefan Ziegler, der 2004 im Rahmen seiner Ausbildung zum gehobenen Dienst eine Arbeit über die Rolle der Münchner Polizei bei den Schwabinger Krawallen verfasst hat: »Heiße Tage auf der Rue de Galopp«. »Wie man auch immer zur Polizei damals und heute stehen mag, die Ereignisse 1962 haben auf Seiten der Polizei weitgehende Denkprozesse mit konkreten Folgen ausgelöst.«

Was denn mit den Musikern passiert sei, will einer der Zuhörer von dem anwesenden Wolfram Kunkel wissen. Kunkel hatte mit seinen Kumpels, Schülern und Lehrlingen, russische Lieder gesungen und geklampft, worauf Anwohner sich über den Lärm bei der Polizei beschwert hatten.

Die Straßenmusiker standen zwar am Anfang der Krawalle, aber nicht im Mittelpunkt: die Instrumente hätten schon etwas gelitten, erzählt Kunkel, und sie hätten eine Anzeige bekommen – aber nicht wegen Aufruhr oder Landfriedensbruch wie andere Beteiligte, sondern wegen »Überbenützung der Gehsteige«.

Artikel vom 04.07.2006
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