Alkohol, Arbeitslosigkeit und Armut als Gewaltbeschleuniger

München · Die jungen Wilden schlagen zu

Viel Blaulicht, weil zuviel Bier geflossen ist: Nach einer kleinen Schlägerei an der Tür sind im Juni Abiturienten und Polizisten vor dem Luisengymnasium aneinander geraten.	 Foto: mh

Viel Blaulicht, weil zuviel Bier geflossen ist: Nach einer kleinen Schlägerei an der Tür sind im Juni Abiturienten und Polizisten vor dem Luisengymnasium aneinander geraten. Foto: mh

München · „Hip-Hopper hauen das Backstage kurz und klein“, „Betrunkene Jugendliche bewerfen Polizisten mit faustgroßen Steinen“, „Abi-Feier endet mit Massenschlägerei“: In beinahe jeder Woche schaffen es derzeit schlägernde Münchner Jugendliche auf die Titelseiten.

„Vor allem in der Nähe von Veranstaltungsorten wird häufig randaliert“, weiß Wolfgang Wenger, Sprecher des Münchner Polizeipräsidiums. „Die Kultfabrik und das Optimolgelände beispielsweise kristallisieren sich als Brennpunkte heraus“. In der ersten Hälfte des Vorjahres habe es in dieser Gegend 66 Delikte gegeben, in diesem Jahr mit 118 fast doppelt so viele. Was ist bloß mit Münchens Jugend los?

„Die Jugend an sich ist nicht aggressiver als früher“, ist Hans Georg Stocker, Betreiber des Clubs „Backstage“, überzeugt. „Aber gewisse Schichten sind gewaltbereiter geworden.“ Das bekam er am Dienstag vergangener Woche am eigenen Leib zu spüren: Das Backstage war an jenem Abend von einem externen Veranstalter gemietet worden, drei Hip-Hop-Bands hatte er engagiert. Nach den Auftritten von „Outer Space“ und „Jedi Mind Tricks“ ist es allerdings nicht mehr zur Show der US-amerikanischen Rapper „Non Phixion“ gekommen: Weil sich der Veranstalter mit der Künstler-Gage aus dem Staub gemacht hatte, weigerten sie sich aufzutreten. Stattdessen verwüstete die Band den Raum hinter der Bühne und rief das Publikum zu „Riot“ – „Aufruhr“ – auf.

Gut 50 der insgesamt 400 jugendlichen Gäste randalierten in der Folge - 150 Polizisten rückten samt Hunden an. Verletzt wurde an jenem Abend zwar niemand, den Sachschaden beziffert Stocker aber auf „etwa 10.000 Euro“. Schuld an dem Krawall ist ihm zufolge die Band. „Es ist verantwortungslos, Menschenleben aufs Spiel zu setzen, indem man blinde Gewalt in Kauf nimmt. Die Band hätte einfach spielen sollen, damit das Publikum nicht zu toben beginnt.“

Bei gewaltbereiten Gästen handle es sich oft um Jugendliche mit geringerer Bildung, die keine berufliche Perspektive für sich erkennen, glaubt Stocker. „Das führt zu Wut.“ Früher sei München eine Stadt voller Mittelschicht-Bürger gewesen, inzwischen breiteten sich aber Arbeitslosigkeit und Armut immer weiter aus und führe zu Aggression. Das merke er auch im Club. Früher sei das „Backstage“ traditionell ein Club für Gymnasiasten und Studenten gewesen, inzwischen feierten gerade bei Auftritten US-amerikanischer „Gangsta“-Rapper eher Gäste mit „weniger Bildung“.

Trotz der Erfahrung der letzten Woche werden auch weiterhin Hip-Hop-Konzerte im Backstage steigen. „Wir können Bands nicht im Vorfeld als gewalttätig verurteilen“, sagt Stocker. „Im Falle von ‚Non Phixion’ aber hoffe ich, dass sie nirgendwo mehr in Deutschland auftreten können.“ „Verarbeitet“ werde der Vorfall gemeinsam mit Backstage-Gästen auf dem hauseigenen “Free&Easy“-Festival: Am 2. September wird dort über Gewalt und Tabubrüche in der Hip-Hop-Szene diskutiert.

Die Polizei sieht neben schlechten Vorbildern aus der Hip-Hop-Szene weitere Gründe für Aggressionen: „Die Veranstalter von Partys setzen oft auf die Alkoholexzesse ihrer Gäste, um sich zu finanzieren“, glaubt Wolfgang Wenger. „Alkohol, gepaart mit Perspektivlosigkeit und Imponiergehabe, sind bei gewissen Jugendlichen absolute Gewaltbeschleuniger.“ Hauptdelikte schließlich seien Körperverletzung und Vandalismus. „Oft verprügeln perspektivlose Jugendliche andere, denen es besser geht.“

Viel Alkohol im Spiel war auch bei der Massenschlägerei nach der Abitur-Feier am Luisen-Gymnasium Ende Juni. Nachdem wohl schulfremde Jugendliche die Türsteher angepöbelt hatten, begann im Chaos eine wüste Schlägerei zwischen bis dahin unbeteiligten, aber betrunkenen Gymnasiasten und der Polizei. „Die Event-Szene hat sich in den letzten Jahren dahin entwickelt, dass sich verschiedene Gruppen auf den Feiern vermischen. Das sorgt für Konflikte“, erklärt Wenger die Entstehung der gymnasialen Randale. Wenger fordert, dass sich Veranstalter verstärkt mit den Folgen von Alkohol als Party-Zugpferd auseinandersetzen. „Erst einmal sollten sie genügend Ordnungsdienste anstellen und mit diesen gemeinsam besprechen, wie sie vorgehen, wenn die Situation eskaliert.“ Und nicht zuletzt sollte bereits im Vorfeld die Polizei um Rat gefragt werden. „Wir sind Ansprechpartner für Partys, Schulfeste, Großereignisse jeder Art und geben unsere Erfahrung gerne weiter.“ Auch direkt in Schulen und Freizeitstätten spricht die Polizei Jugendliche an, um sie vor den Gefahren von Alkohol, Drogen und Gewalt zu warnen. Nicht zuletzt ist die Polizei natürlich im gesamten Stadtgebiet auf Streife und beobachtet Gefahrenpunkte. „Wenn allerdings eine Eskalation stattfindet, zeigen wir Flagge“, sagt Wenger.

Wie am vergangenen Wochenende: 100 Polizeibeamte rückten aus, um einer Moosacher Streife zu Hilfe zu eilen, die eine Gruppe Jugendlicher auf der Grünanlage bei der Dillinger Straße wegen Ruhestörung verwarnt hatte. Als „Antwort“ hagelte es faustgroße Steine auf die Polizisten. Ein Vorfall mit Konsequenzen: „Hier in der Gegend schauen wir nicht mehr weg, hier werden wir verstärkt kontrollieren“, verkündet Wenger kämpferisch.

„Die Qualität der Gewalt hat sich in den letzten Jahren verändert“, weiß Bernhard Schmidt, Pädagoge an der Ludwig-Maximilians-Universität. „Die Schwelle zu brutalen Gewaltformen ist bei Jugendlichen gesunken.“ Gründe sieht er unter anderem im Medienkonsum. „Die zunehmende Gewaltverherrlichung im Fernsehen fördert die Abstumpfung – extreme Gewalt verliert immer mehr an Schrecken.“

Im Kleinen könnten, so Schmidt, Streitschlichter-Projekte oder Anti-Aggressions-Teams an Schulen helfen, wie sie in München zahlreich durchgeführt werden. „Allerdings weiß man noch zu wenig über die tatsächliche Wirkung solcher Projekte. Es fehlen die finanziellen Mittel, um diese Maßnahmen wissenschaftlich zu begleiten.“

Neben den gesellschaftlichen Gründen für zunehmende Gewaltbereitschaft gebe es außerdem individuelle Auslöser: „In vielen Fällen fallen jugendliche Täter auf, deren Elternhaus ‚Gewalt als Lösung’ propagiert“, sagt er. „Diese Jugendlichen müssen individuell aufgefangen und auf den rechten Weg gebracht werden.“

Artikel vom 11.08.2005
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