Wenn Straßen reden könnten

Münchner Norden vor großem Wandel – Theaterspaziergang als Hommage

Vor dem massigen Häuserabriss huldigt ein Theaterspaziergang der Karlingerstraße. 	F.: dm

Vor dem massigen Häuserabriss huldigt ein Theaterspaziergang der Karlingerstraße. F.: dm

Moosach · Bald gibt es die Karlingerstraße nicht mehr. Johanna Donner ist Leiterin der beiden Moosacher Nachbarschaftstreffs Untermenzinger und Karlingerstraße und steht als solche im ständigen Kontakt zu den Bewohnern der Siedlung. Hier passiert nämlich in nächster Zeit viel.

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Was die Straße und ihre Bewohner in den aktuellen Fokus setzt, ist ihr baldiger Abriss: »Die Siedlung ist in den 40-er Jahren gebaut worden und soll nun komplett abgerissen und neu gebaut werden.« Ein Spaziergang soll der Straße auf besondere Art huldigen. Anekdoten werden am Sonntag, 6. Mai von 16 bis 18 Uhr lebhaft nacherzählt.

Donner sagt, dass in der Geschichte der Siedlung und ihrer Bewohner viel Zeitgeschichte steckt: »Es gibt noch einige, die sich an die ersten Jahre in der damaligen Neubausiedlung erinnern können. In ihren Geschichten geht es nicht nur um das Erleben der Nachkriegszeit – etwa bittere Armut, amerikanische Besatzung und Wohnungsmangel – sondern auch um die Urbanisierung eines abgelegenen Viertels mit vielen Gärtnereien hin zu einer Arbeitersiedlung und schließlich zu einem begehrten Wohnquartier mit guter Anbindung ans Zentrum.« Sie erwähnt, dass hier immer noch viele Menschen wohnen, die als so genannte Gastarbeiter vor 40 Jahren zuzogen und etwa als Handwerker am wirtschaftlichen Aufschwung Moosachs und Münchens teil hatten.

Es gebe, so Donner, heute nicht mehr viele Stadtgebiete, »in denen es Nachbarschaften gibt, wo man sich seit Jahrzenten – zum Teil über drei Generationen hinweg kennt, fast wie auf dem Land.« Nun kommt vor dem Abriss ein »Theaterspaziergang«. Die Idee hierzu stammt von Anette Weber, die als Theaterpädagogin bereits ein ähnliches Projekt in Giesing geleitet hat. Das hat Donner beeindruckt, »weil die Geschichten der Menschen und die Zeitgeschichte sehr persönlich und anschaulich geteilt werden.«

Eine Straße mit Gesicht, bevor sie bald nicht mehr ist

Ein Theaterspaziergang zur Aufbereitung der aktuellen und zukünftigen Situation hat laut Donner zahlreiche Vorteile. »Ich denke, damit erreicht man auch Menschen, die vielleicht nicht zu einem Geschichts-Café oder einem Vortrag kommen würden. Auch kann man in das Projekt sehr gut Protagonisten integrieren, die sich normalerweise eher nicht ins Rampenlicht stellen.«

In einem Jahr, sagt Donner, werden die ersten Bagger und Absperrgitter stehen. In fünf Jahren wird es die ersten bewohnten Neubauten geben, gleich neben den alten. Und in 20 Jahren? »Das wird ein völlig neues Quartier, sicher sehr urban und modern.« Donner sieht die Entwicklung mit gemischten Gefühlen. »Die Wohnungen hier haben eine sehr schlechte Substanz und entsprechen in keiner Weise den heutigen Standards. Darunter leiden die einen, die anderen können sich damit gut arrangieren und sind einfach froh, eine für Münchner Verhältnisse wirklich günstige Wohnung zu haben. Ein Vorteil am Neubau ist aber nicht nur die Modernisierung, sondern auch dass es zirka 100 Wohneinheiten mehr geben soll. Da ist guter Wohnraum mit stabilen Mieten – und der wird gerade in Zukunft bitter benötigt. Nur für die Leute mit den alten Mietverträgen ist es jetzt natürlich heikel, dass sie sich auf dem freien Markt schlichtweg keine vergleichbare Wohnung leisten können.«

Der Theaterspaziergang wird definitiv nicht das einizge Projekt bleiben. »Bei dem Projekt hat sich sehr viel Material angesammelt, viel mehr als im Spaziergang verarbeitet werden kann. Es wird noch eine Ausstellung im Pelkovenschössl geben. Dabei wird es nicht nur um die Dokumentation des Spaziergangs gehen, sondern auch um eine Aufbereitung der Geschichte der Siedlung mit ergänzendem Material.

Auf dem Weg durch die Siedlung und ihre Geschichten – erinnert, aufgeschrieben und dargestellt von Bewohnern aus der Karlingerstraße.

Sie haben persönliche Geschichten aus dem Leben in der Siedlung notiert, altes Bildmaterial und Requisiten zusammengetragen und Theater gespielt. Entstanden ist dabei ein Theaterspaziergang von und für die Nachbarschaft. Die Szenen spielen an verschiedenen Orten im Viertel und erzählen vom Leben in den Nachkriegsjahren, den wilden 70-er und 80-er Jahren und heute.

Die Siedlung entlang der Karlingerstraße und Gubestraße wird in den kommenden Jahren komplett abgerissen und von der GWG München neu gebaut. Daher wollte Johanna Donner, die Leiterin des Nachbarschaftstreffs, unbedingt etwas machen, bevor man die Nachbarschaft umwälzt und ihre Geschichten eventuell verloren gehen. So kam sie mit Theaterpädagogin Anette Weber ins Gespräch, die einen Theaterspaziergang in Giesing initiiert und auf die Beine gestellt hatte und bereit war, ein ähnliches Projekt in Moosach anzugehen. »In der Karlingerstraße hat es von Anfang an großen Spaß gemacht und die Arbeit mit den Leuten ist spannend. So eine Gruppe zusammenzubringen, ist natürlich nicht ganz so einfach. Es gab einige Interessenten, die zwar spannende Geschichten mitbrachten, aber nicht den Mut oder die Zeit hatten, Theater zu spielen«, so Anette Weber. Zu der jetzigen Kerngruppe zählen acht Personen. Viele von ihnen verbinden mit der Karlingerstraße intensive Erinnerungen an ihre Jugend, zwei Beteiligte wohnen derzeit noch hier. Manche sind aktive Mitglieder des Geschichtsvereins, andere sind aus Spaß und wegen der Heimat dabei.

Anette Weber wird von der Ethnologin Stephanie Salzhuber unterstützt, sie engagiert sich als gebürtige Moosacherin auch im Nachbarschaftstreff und dem Geschichtsverein. Sie hat viele Gespräche in der Nachbarschaft geführt, auch Hochbetagte zu Hause besucht und Leute zum Mitmachen motiviert. Sie sagt, es habe sich gelohnt: »Ich dachte, ich kenne Moosach in- und auswendig, aber jetzt sehe ich mein Viertel nochmal mit ganz anderen Augen. Ich habe sehr viele interessante Menschen getroffen und Lebensgeschichten gehört«. Es hat sich so viel Wissen und Material angesammelt, dass sie nun an einer ergänzenden Ausstellung arbeitet, die vom 8. bis 17. Juni im Moosacher Pelkovenschlössl gezeigt wird.

»Geschichte(n) aus der Karlingerstraße – Ein Theaterspaziergang von und für die Nachbarschaft« wurde bereits am Sonntag, 29. April aufgeführt und wird am Sonntag, 6. Mai, von 16 bis 18 Uhr wiederholt. Der Treffpunkt ist die Gubestraße auf Höhe der Hausnummer 10/11.

Infos und Anmeldung gibt es beim Nachbarschaftstreff Karlingerstraße telefonisch unter 45 20 74 68 oder im Internet unter www.nachbarschaftstreff-moosach.de

Von Daniel Mielcarek

Artikel vom 01.05.2018
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