Das »Lyrik Kabinett« München – in dieser Form in Deutschland einmalig

Maxvorstadt · Poesie hilft Migrantenkindern beim Ankommen

Im Lyrik Kabinett«, Amalienstr. 83, haben am 23. Januar Schüler einer Münchner Realschule ihren großen Auftritt (kleines Bild) und am 29. Januar die junge, internationale Lyrikszene (im Bild Moderator Max Czollek).  F.: Lyrik Kabinett, Stefan Loeber

Im Lyrik Kabinett«, Amalienstr. 83, haben am 23. Januar Schüler einer Münchner Realschule ihren großen Auftritt (kleines Bild) und am 29. Januar die junge, internationale Lyrikszene (im Bild Moderator Max Czollek). F.: Lyrik Kabinett, Stefan Loeber

Maxvorstadt · Wann haben Sie das letzte Mal ein Gedicht gelesen oder gehört? Poetry Slam kennt man, aus Kneipen oder Youtube.

Die klassische Lyrik, Gedichte also Texte, Gedanken in Versform, scheint ein Nischendasein zu fristen, den meisten zuletzt begegnet im Deutschunterricht, Image: zu sperrig, abgehoben, verschwurbelt. Ausgerechnet Lyrik soll für Flüchtlingskinder in München, die erst seit ein, zwei Jahren Deutsch lernen, der Schlüssel sein, um etwa die Mittlere Reife zu schaffen und um langfristig anzukommen in Deutschland.

Das ist das Ziel von »Lust auf Lyrik« für Schulklassen, dem seit über einem Jahrzehnt erfolgreichen pädagogischen und vom bayerischen Kultusministerium unterstützten Modellprojekt des »Lyrik Kabinetts« in der Amalienstraße 83. Als ausschließlich der Dichtung gewidmetes Forum ist das »Lyrik Kabinett« in dieser Form in Deutschland einmalig. Dort präsentieren nun am 23. Januar Schülerinnen und Schüler der Deutsch-Förder-Klasse der Städtischen Wilhelm-Busch-Realschule in Perlach ihre Gedichte und Übersetzungen. Der Eintritt ist frei, Beginn ist um 19 Uhr.

Sie stammen aus Afghanistan, Äthiopien, Bosnien, Bulgarien, China, Guatemala, Kroatien und Syrien – die Schülerinnen und Schüler der Deutsch-Förder-Klasse der Städtischen Wilhelm-Busch-Realschule in Perlach. Deutsch lernen sie erst seit ein, zwei Jahren. Ihr Weg nach und auch in Deutschland war alles andere als leicht. Mit »Lust auf Lyrik« in der deutschen Sprache betreten sie alle Neuland.

Angeleitet von der Dichterin Karin Fellner erkunden sie rhythmische Überlagerungen zwischen verschiedenen Sprachen oder Bildschätze, die in diesen Sprachen schlummern und im Deutschen eine neue Strahlkraft entfalten. Sie fragen: Wie kann man Verse übertragen? Und welche Besonderheiten des Deutschen erscheinen einem Neuankömmling so verwunderlich, dass sich daraus poetische Funken schlagen lassen? Zu erleben am 23. Januar.

Ein paar Tage zuvor, am 16. Januar, 20 Uhr, liest Durs Grünbein, ausgezeichnet unter anderem mit dem renommiertesten Literaturpreis im deutschen Sprachraum, dem Georg-Büchner Preis, aus seinem neuen Gedichtband »Zündkerzen«.

Hilmar Klute moderiert den Abend. Karten gibt es an der Abendkasse für 8/6 Euro. Einlass ist ab 19.30 Uhr. »Poetry in motion« heißt es am 15. Januar, 20 Uhr, mit Renato Kaiser (Bern/CH), Frank Klötgen (München) und Joyce Lee (Oakland/USA), Moderation: Ko Bylanzky; an den Turntables: Simian Keiser und HC. Der Eintritt kostet 8/6 Euro.

Etwa 45 Veranstaltungen richtet die Stiftung jährlich aus: Lesungen mit zeitgenössischen Dichterinnen und Dichtern aus aller Welt und Veranstaltungen zu Autorinnen und Autoren von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Zudem veröffentlicht die Stiftung Bücher. Das 1989 als Buchhandlung gegründete »Lyrik Kabinett« hatte deren Besitzerin Ursula Haeusgen 2003 in eine gleichnamige Stiftung überführt.

Auf internationaler Ebene entspricht das Lyrik Kabinett den Poesiezentren in anderen Ländern, wie etwa den französischen Maisons de la Poésie oder der englischen London Poetry Library.

Auf einem von der Ludwig-Maximilians-Universität zur Pacht für 66 Jahre überlassenen Grundstück in der Amalienstraße 83 unterhält das Lyrik Kabinett die zweitgrößte auf Lyrik spezialisierte Bibliothek Europas mit aktuell 55.000 Medien.

Die Bibliothek wird pro Jahr systematisch um ca. 2.000 Einheiten erweitert und steht jedermann zur Nutzung offen. Bei »Wort vor Ort« können Schulklassen eine Kreativ-Führung in der Bibliothek erleben und gleichsam einen Schulausflug in die Poesie machen.

Die Frage nach der Bedeutung der Lyrik in heutigen Zeiten findet Dr. Pia-Maria Leuschner, die sich um Öffentlichkeitsarbeit und Programmassistenz im »Lyrik Kabinett« kümmert, alles andere als unangebracht. »Wir leben in einer ungeheuer und in jeder Hinsicht beschleunigten Zeit. Gerade heute ist es sinnvoll, sich mit Poesie zu beschäftigen«, findet Leuschner, »weil sie einfach die dichteste Form der (Erkenntnis-)Rede über alles Erdenkliche ist: über alles, was die Menschen angeht (persönliche Gefühle und Erlebnisse, aber auch vieles andere), aber zudem die Natur, Tiere, den Zustand unserer Zivilisation, die Zukunft der Welt und nicht zuletzt die Möglichkeiten von Sprache und Erkenntnis überhaupt.«

Lyrik sei zudem immer wieder ein Medium der Verfechtung von Freiheit gewesen – gegen Diktaturen oder Zwänge der Gesellschaft – und des Brückenbauens zwischen Kulturen, Sprachen und Völkern. »Und wenn das dann zudem in einer ästhetisch äußerst spannenden und gedankenanregenden Form geschieht – was kann man Besseres wollen?« mil

Alle Infos und Veranstaltungen des Lyrik Kabinetts unter www.lyrik-kabinett.de

Artikel vom 10.01.2018
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