Interview mit Roland Haase, dem Verfasser des Buches »Unser Ottobrunn und Riemerling«

Ottobrunn · »Über Hundert Zeitzeugen kamen zu Wort«

Stolz präsentieren Professor Jan Murken (l.) und  Roland Haase das Buch.	Foto: MO

Stolz präsentieren Professor Jan Murken (l.) und Roland Haase das Buch. Foto: MO

Ottobrunn · Rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft ist das von der Gemeinde Ottobrunn herausgegebene Geschichtsbuch »Unser Ottobrunn und Riemerling – Menschen, Häuser und Geschichte(n) im Spiegel alter Ansichtskarten« erschienen.

Im Gespräch mit Mein Ottobrunn wirft der Verfasser Roland Haase (55) einen Blick hinter die Kulissen.

MO: Herr Haase, was ist so faszinierend an der Geschichte Ottobrunns?

Roland Haase: Ihr ungewöhnlicher Verlauf. Dazu muss man wissen: Die meisten unserer Nachbarorte sind ehemalige Pfarrdörfer aus dem Mittelalter. Ihre Entwicklung folgte einem klassischen Muster: In freiem oder gerodetem Gelände gruppierten sich Gehöfte um einen Brunnen (z.B. Hohenbrunn, Putzbrunn, Grasbrunn, Siegertsbrunn), eine kleine Kirche (z.B. Höhenkirchen) oder einen Bach (z.B. Ober- und Unterhaching). Von diesem Kern aus legten die Siedlungen Wachstumsringe an. Ottobrunn hingegen entstand erst 1902, inmitten eines großen Waldes, viele Jahre ohne zentralen Brunnen und ohne Kirche, durch das Zusammenwachsen von fünf versprengten Kolonien, bestehend aus Villen und Wochenendhäuschen. Und dann, in den 1960er Jahren, kommt plötzlich das Ende der Beschaulichkeit durch das stürmische Wachstum der Firmen Bölkow/MBB und IABG. Wenn das nicht faszinierend ist.

MO: Wie kamen Sie auf die Idee, »Unser Ottobrunn und Riemerling« zu schreiben?

R.H.: Den Anstoß gab Professor Jan Murken, der Gründer und Leiter des Otto-König-von-Griechenland-Museums. Nachdem der gebürtige Westfale im Jahr 1971 Ottobrunn zu seiner neuen Heimat erkoren hatte, sammelte er 40 Jahre lang Ansichtskarten mit Ottobrunner und Riemerlinger Motiven, um sie eines Tages in einem Ansichtskartenbuch zu veröffentlichen. Als ich begann, über die Karten zu schreiben, merkte ich bald, wie wenige Mitbürger über die Bildmotive wirklich gut Bescheid wussten. Als dann noch ein Zeitzeuge, der letzte Insider des ehemaligen Cafés Danzer, einer Ottobrunner Institution, wenige Wochen nach unserem Kennenlernen starb, wusste ich: Du musst ein richtiges Geschichtsbuch schreiben. Sonst gehen die Erinnerungen an die alten Zeiten ein für alle Mal verloren.

MO: Wie lange haben Sie an dem Buch gearbeitet?

R.H.: Von der Registrierung und Digitalisierung der ersten Ansichtskarten bis zum Erscheinen des ersten Bandes waren es fast fünf Jahre. Insgesamt wohl 3.500 bis 4.000 Stunden.

MO: Und trotzdem haben Sie auf ein Autorenhonorar und eine Auslagenvergütung verzichtet. Warum?

R.H.: Weil ich das Buch aus Spaß an der Freud‘ geschrieben habe. Und weil ich möchte, dass sich möglichst viele Mitbürger das Buch leisten können. Das sollte nicht am Geld scheitern.

MO: Sie sind erst vor zwanzig Jahren nach Ottobrunn gezogen. War das für Ihr Buch eher ein Nachteil oder ein Vorteil?

R.H.: Sowohl als auch. Einerseits war ich anfangs noch nicht so vernetzt und kannte erst wenige Zeitzeugen. Andererseits war ich als Ortsfremder sehr wissbegierig. Wäre ich hier aufgewachsen, hätte ich zwar viele Leute gekannt, aber Vieles auch für (vermeintlich) nicht erwähnenswert gehalten. Erst mit der Zeit merkte ich, dass selbst Alteingesessene oft nur »ihren« Teil Ottobrunns gut kennen.

MO: Mit welcher Einstellung haben sich Ihre Gesprächspartner auf Sie eingelassen?

R.H.: Da habe ich fast nur gute Erfahrungen gemacht: Spontane Einladungen ins eigene Wohnzimmer waren die Regel. Das ist keineswegs selbstverständlich, schließlich war ich den meisten Gesprächspartnern damals noch unbekannt. Schnell wurde allerdings klar, dass ich nur redliche Absichten hatte und von Heimatgeschichte etwas verstand.

MO: Wie haben Sie Ihre Zeitzeugen kennengelernt?

R.H.: In den meisten Fällen empfahl mir ein Interviewpartner den nächsten. Doch nicht selten kamen die Kontakte auch durch verrückte Umstände und aberwitzige Zufälle zustande. Zum Beispiel erinnerte ich mich nach Jahren an einen Namen, der in einem ganz anderen Zusammenhang in einem Nebensatz gefallen war. Oder ich schlug im Telefonbuch nach und rief auf Verdacht eine Person mit dem betreffenden Namen an, obwohl sie gar nicht im Raum Ottobrunn wohnte. Am anderen Ende meldete sich zwar nur der Sohn, dessen Vater schon im Krieg gefallen war, aber auch er konnte mir weiterhelfen. Insgesamt kam ich mit mehr als hundert Zeitzeugen in Kontakt.

MO: Etliche von ihnen sind inzwischen verstorben. Was empfinden Sie dabei?

R.H.: Große Trauer über den Tod dieser Mitbürger und aufrichtiges Mitgefühl mit den Angehörigen. Aber auch Freude darüber, diese Herrschaften noch rechtzeitig kennengelernt und befragt zu haben.

MO: Was gibt den Lesern Ihres Buches die Sicherheit, dass das, was Sie schreiben, auch stimmt?

R.H.: Gewiss werden sich manche Aussagen eines Tages als fehlerhaft oder unscharf formuliert erweisen. Mir war allerdings wichtig, das Fehler- oder Irrtumsrisiko soweit wie möglich zu minimieren. Zum einen, indem ich allen Zeitzeugen die Möglichkeit gab, die auf ihren Auskünften beruhenden Texte gegenzulesen. Zum anderen, indem ich andere Zeitzeugen zu denselben Sachverhalten befragte. Dadurch bekam ich im Laufe der Zeit ein gutes Gespür, wessen Auskünfte besonders verlässlich sind. Wenn mir Angaben als unsicher oder vage erschienen, habe ich das im Text entsprechend kenntlich gemacht.

MO: Auf welche geschichtlichen Quellen stützt sich »Unser Ottobrunn und Riemerling« sonst noch?

R.H.: Mein ältester Auskunftgeber, ein gebürtiger Ottobrunner, ist Jahrgang 1920. Er hat zwar ein brillantes Gedächtnis, doch die Gründerjahre Ottobrunns ab 1902 lagen vor seiner Zeit. In diesem und manch anderen Fällen habe ich in Archiven geforscht und einige sehr überraschende Erkenntnisse gewonnen. Etwa die, dass Ottobrunns Gründer gebürtiger Österreicher war. Clemens Schöps dürfte für hiesige Ohren recht »wienerisch« gesprochen haben.

MO: Haben Zeitzeugen Sie jemals bedrängt, bestimmte Tatsachen in Ihrem Buch nicht zu erwähnen?

R.H.: Natürlich haben mir Zeitzeugen ab und zu Vertrauliches mitgeteilt und um Diskretion gebeten (»Wos i Eahna jetzt sog, schreiben’s aber net im Buach«). Ansonsten habe ich jedoch eine Offenheit – selbst in Bezug auf heikle Tatsachen – erlebt, die ich nicht für möglich gehalten hätte.

MO: Seit der Gründung Ottobrunns im Jahr 1902 sind 115 Jahre vergangen. Warum hat noch niemand vor Ihnen ein Buch über die Geschichte Ottobrunns geschrieben?

R.H.: Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht! Vielleicht verhält es sich so: Als Clemens Schöps, der Gründer Ottobrunns, 1907 ganz unvermittelt im Alter von 44 Jahren starb, wurde sein Plan einer Villenkolonie aus einem Guss von niemandem weiterverfolgt. Auch fortan blieb die Ortsentwicklung jahrzehntelang sich selbst überlassen. Das Ortsbild Ottobrunns legt ein beredtes Zeugnis davon ab. Zudem hatte Ottobrunn lange keine richtige Ortsmitte. Die Pflege einer guten Nachbarschaft war den Menschen wichtiger als eine Gemeinde, die erst nach und nach aus fünf Siedlungen zusammengewachsen ist. In so einem Umfeld entwickelt sich der Blick fürs große Ganze nur allmählich.

MO: Die Zeit für Ihr Buch war also gewissermaßen reif?

R.H.: Ich würde sogar sagen: überreif. Oft setzt das Bewusstsein, etwas vor dem Verfall oder unwiederbringlichen Verlust bewahren zu müssen, erst Fünf vor Zwölf ein. Bei der Geschichte Ottobrunns stand die Uhr oft schon auf Fünf nach Zwölf. Allerdings gab es auch schon vor meinem Buch einige Publikationen, die einzelne Aspekte der Ottobrunner Geschichte behandelten. Hierzu zählen beispielsweise die Festschriften und Bücher, die anlässlich verschiedener Jubiläen unseres Siedlungsraums, zuletzt im Jahr 2002, erschienen sind. So umfassend, detailliert und ausschließlich auf die Geschichte fokussiert wie das von mir geschriebene Buch ist jedoch keines.

MO: Warum haben Sie Ihr Buch »Unser Ottobrunn und Riemerling« genannt?

R.H.: Der Titel ist eine Botschaft: Liebe Ottobrunner und Riemerlinger – dieses Buch ist nicht die Geschichte von Fantasy-Figuren, die vor langer Zeit in einem fernen Land allerlei denk- und merkwürdige Dinge getan, erlebt und erlitten haben. Nein, das waren Menschen aus Fleisch und Blut, die in den vergangenen 115 Jahren hier vor Ort gewirkt und den Boden unserer heutigen, bei aller Enge doch recht komfortablen Existenz bereitet haben. Darüber Bescheid zu wissen, lohnt sich.

MO: Vielen Dank für das Gespräch! MO

Artikel vom 20.12.2017
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