Guter Rat ist kostenlos

Präventive Hausbesuche: Im Alter zufrieden in München leben

Zuhören – das ist die wichtigste Aufgabe von Sedef Özakin, gefolgt von der Vermittlung von Problemlösern.	Foto: Verein

Zuhören – das ist die wichtigste Aufgabe von Sedef Özakin, gefolgt von der Vermittlung von Problemlösern. Foto: Verein

München · Die Deutschen haben Angst. Nicht pauschal und auch keine lähmende Angst. Sie haben Angst, mit dem Alter ihre Selbstbestimmung zu verlieren. Dass sie ihre sozialen Kontakte verlieren. Dass sie sich nicht mehr versorgen können. Dass sie nicht mehr in ihren eigenen vier Wänden leben können.

Der Umzug in eine stationäre Einrichtung wie ein Senioren- oder Pflegeheim ist in der Regel das letzte Mittel. Vorher gibt es in München eine Vielzahl an Angeboten, die ein selbstbestimmtes Leben im Alter in der eigenen Wohnung auch bei körperlichen Einschränkungen ermöglicht. Um die Anbieter und die Nutzer solcher Angebote zusammenzubringen, gibt es die »Präventiven Hausbesuche«. 2009 beschloss der Münchner Stadtrat das Modellprojekt für präventive Hausbesuche bei Menschen über 75 Jahren bzw. bei Migranten ab 65 Jahren. Ziel des Projektes ist es, Menschen, die noch zu Hause leben, rechtzeitig ein Beratungsangebot zu machen und gegebenenfalls Hilfe zu vermitteln. Fachkräfte sollen klären, inwie­weit bei den Senioren in den Bereichen Haushaltsführung, pflegerische Versorgung, finanzielle Absicherung oder soziale Kontakte Hilfebedarf besteht. Die Besuche erfolgen nur auf Wunsch. Sie sind kostenfrei und werden absolut vertraulich behandelt. Eine dieser Fachkräfte ist Sedef Özakin. Sie arbeitet in der Beratungsstelle Wohnen vom Verein Stadtteilarbeit. Von 2002 bis 2008 war sie Stadträtin in München. Aus ihrer Erfahrung weiß sie um die Sorgen, die ältere Menschen mit sich tragen. Im Samstagsblatt spricht sie darüber.

Samstagsblatt: Was bedeutet das Angebot »präventive Hausbesuche«?

Sedef Özakin: Meine Aufgabe besteht darin, dass ich ältere Menschen in ihren Anliegen und Anfragen unterstütze. Ich besuche sie zu Hause und berate sie darin, welche Angebote für sie passen. Ich helfe den Bürgern im Dschungel an Hilfsangeboten, damit sie Klarheit finden. Mein Ziel ist es, auch die Migranten zu erreichen. Viele von ihnen haben sich nach dem Berufsleben zurückgezogen und sind im Rentenalter oft sehr einsam. Sie kennen häufig nicht die Angebote und stehen den Behörden und Einrichtungen sehr skeptisch gegenüber.

Samstagsblatt: Haben die Ratsuchenden Angst vor unserer Bürokratie?

Özakin: Ja, es gibt Vorbehalte gegenüber den Ämtern und Behörden. Oft wollen die Menschen nichts mit den Behörden zu tun haben. Sie nehmen diese als Bedrohung wahr und stehen den staatlichen und städtischen Leistungen kritisch gegenüber.

Samstagsblatt: Welche Personen melden sich bei Ihnen?

Özakin: Angehörige und Betroffene rufen mich an und fragen nach Unterstützung. Manchmal sind es sehr fitte Senioren, die einen Rat brauchen. Zum Beispiel eine Ehefrau, knapp 70 Jahre alt, die mit dem Pflegedienst ihres 75-jährigen Ehemannes unzufrieden ist. Sie wusste nicht, dass man den Pflegedienst ohne Probleme wechseln kann.

Samstagsblatt: Welche Hilfsangebote können Sie den Ratsuchenden anbieten und wie helfen Sie konkret?

Özakin: Wir informieren und beraten beispielsweise bei der Antragstellung zur Pflegestufe und beim Behindertenausweis. Ebenso überprüfen wir, ob ein Anspruch auf Sozialhilfe besteht und geben Hinweise zu Hilfsmitteln. In allen Fragen rund um die häusliche und pflegerische Versorgung versuche ich kulturspezifisch zu beraten. In Behördenangelegenheiten bieten wir ebenso unsere Hilfe an und ermöglichen somit einen Weg durch den Behördenapparat. Viele der Ratsuchenden wollen nur einen telefonischen Kontakt und andere wiederum wollen zu Hause besucht werden. Diese Arbeit ist sehr multikulturell. In meiner Arbeit habe ich auch mit Deutschen zu tun, die mir mit Vorbehalten begegnen. Es ist sehr interessant, wie sie auf mich als Türkin reagieren. Nicht selten höre ich dann: »Toll, wie Sie mir helfen.« Da merke ich, dass die Nationalität keine Rolle mehr spielt, sondern zentral die Hilfe ist, die ich den Menschen geben kann.

Samstagsblatt: Was hat Sie in Ihrer Arbeit berührt?

Özakin: Mich hat ein älterer Mann sehr berührt, der mir erzählte, dass er eine Versicherung abgeschlossen hat, damit er nach seinem Tod in die Heimat überführt wird. Er sagte: »Viele meiner Wünsche gingen nicht in Erfüllung. Meine Frau und ich haben gehofft, es zu ein bisschen Wohlstand für meine Familie in Deutschland zu bringen. Ich habe es nicht geschafft wieder in meine Heimat zurück zu kehren. Aber wenn ich tot bin, will ich zumindest in meiner Heimat begraben sein.«

Samstagsblatt: Was sind die größten Herausforderungen Ihrer Tätigkeit?

Özakin: Den Menschen in ihrer Einsamkeit zu begegnen, ist eine große Herausforderung. Es existiert eine extreme Vereinsamung, egal welcher Nationalität oder sozialer Herkunft sie angehören. Den Menschen aus der Einsamkeit raus zu helfen, ist enorm wichtig. Ebenso die Personen bei der Flut von Behördengängen zu unterstützen, aber auch die Finanzierung von Hilfsmitteln.

Samstagsblatt: Die von der Stadt München finanzierten Präventiven Hausbesuche werden von der Beratungsstelle Wohnen des Vereins Stadtteilarbeit angeboten. Gibt es noch andere Stellen?

Özakin: Die Stadt München finanziert Alten- und Service-Zentren in fast allen Stadtteilen. Wir von der Beratungsstelle Wohnen haben die Sonderstellung, dass wir die Arbeit mit Migranten zu unserem Schwerpunkt gemacht haben. Wir versuchen damit, ganz München abzudecken. Der Stadt München ist es wichtig, dass es den Senioren in ihrer Stadt gut geht und dass sie zufrieden leben können.

cr

So seh ich das Carsten Clever-Rott über offene Lebensfragen

Wenn wir heute wüssten, was morgen ist, könnten wir entsprechend vorsorgen. Wir, die Deutschen, die Versicherungsweltmeister. An alles denken wir und dann treten Ereignisse ein, vor denen wir staunend und ratlos stehen. Bemerkenswerterweise ist das im Herbst der erste Schneefall genauso wie Fragen nach der Absicherung im Alter. Finanziell sorgen die meisten nach besten Möglichkeiten vor, aber Geld ist nicht zwangsweise das Problem. Auf fast jede Frage gibt es im deutschen Sozialsystem eine Antwort. Nur wissen die wenigsten, an wen man sich mit seinen Fragen wenden kann. Mit den präventiven Hausbesuchen schließt die Stadt München diese Lücke so gut es geht. Doch auch bei diesem Angebot gilt vor allem eines: Den ersten Schritt müssen die Betroffenen machen, denn diese sehr persönliche Hilfe kann und darf nicht aufgezwungen werden – und klugerweise wird sie das auch nicht. So seh ich das.

Artikel vom 23.06.2017
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