Von Janina Engelbrecht

Bogenhausen · Leben am Straßenrand (Teil 1)

Bogenhausen · »Ama y dilo con tu vida!« – »Liebe und sag es durch dein Leben!« Dies ist der Leitspruch, der den deutschen Pater Lutz Hübner und sein Hilfsprojekt »Obra Padre Lutz« für bolivianische Straßenkinder aus der Stadt El Alto ständig begleitet.

Leben am Straßenrand (Teil 2)

12-teiligen Reihe: Wir hinterfragen Geschichten

Während er mit Stolz in einem Bilderalbum mit Fotos von den Kindern und ihm blättert, merkt man dem 56-Jährigen die Wehmut an, nicht bei ihnen zu sein. In seinem Blick liegt Sehnsucht und etwas Trauriges. Er strahlt Ruhe, aber gleichzeitig auch Nachdenklichkeit aus. Der Grauhaarige studierte Philosophie, Sozialpädagogik und Theologie in Benediktbeuern, wo er auch zum Priester des Salesianer Ordens Don Boscos geweiht wurde. Er wirkte als Erzieher und Religionslehrer, Priester und Sozialarbeiter schon in Bukarest, Wien und in München. Dort setzte er sich als Streetworker für drogensüchtige Jugendliche ein, bevor er sich in den Schwarzwald zurückzog, wo ihm die Idee kam, diese Arbeit in Bolivien, eines der drei ärmsten Länder Lateinamerikas, fortzusetzen und wo er das Projekt für die Straßenkinder gründete.

Eine Perspektive für die Jugendlichen

»Ein Freund von mir arbeitete als Priester in der Stadt El Alto in Bolivien. Die Stadt, in der über die Hälfte der Einwohner Jugendliche sind, ist eine Stadt voller Armut, Probleme und Perspektivlosigkeit. Viele Jugendliche arbeiten und leben auf der Straße und geraten dadurch oft in die Drogen- und Alkoholsucht und Kriminalität. Ich rief ihn an, ob er einen Streetworker braucht, der auf die Straße geht, um diesen Kindern zu helfen, ihr Leben zu verändern. Er war begeistert und so gab ich hier alles auf und flog nach Bolivien mit dem Ziel, die Armut zu bekämpfen«, berichtet der inzwischen wieder in München lebende Pater. Als er im Jahr 2000 in Bolivien ankam, lebte er zunächst bei seinem befreundeten Priester und musste erst einmal die Sprache lernen, um überhaupt Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen aufnehmen zu können.

Das Ziel des Projekts ist es, vor allem den Straßenkindern Pers­pektiven und einen Weg in eine bessere Zukunft, ohne Alkohol, Drogen oder Kriminalität, zu bieten. »Ich habe angefangen mit einer Tüte Bonbons und belegten Semmeln durch die Straßen zu laufen und an die Kinder zu verteilen und alle waren glücklich. Und alle Kinder haben sich für mich interessiert, so wie ich mich für sie interessiert habe. Nach kurzer Zeit haben sie mich und ich sie gekannt und das ist die Basis. Wir gehen raus auf die Straße, machen den ersten Schritt und suchen Kontakt. Man hat Essen für sie, wird dadurch ein Teil von ihrem Leben und gewinnt ihr Vertrauen«, beschreibt der Pater die Anfänge seiner Arbeit in Bolivien und steckt einen dabei mit seiner Begeisterung an.

Die Familien der Kinder und Jugendlichen sind meistens verarmt und können ihre Kinder nicht mehr durchbringen. Deswegen ist es notwendig, dass sie arbeiten und Geld verdienen. Die Kinder sind größtenteils auf sich allein gestellt. Dadurch entfernen sich viele von ihnen von der Familie und es besteht die Gefahr, dass sie straftätig werden, verarmen und für immer auf der Straße landen. Viele Mädchen sind gerade mal in der Pubertät und arbeiten schon als Prostituierte. Der Pater zeigt nachdenklich ein Foto aus seinem Album, auf dem vier bolivianische Mädchen vor einem Haus zu sehen sind. Sie scheinen nicht älter als zwölf Jahre alt zu sein. Sie haben sich gegenseitig die Arme umgelegt und lächeln dabei fröhlich in die Kamera. Doch der Schein trügt. Denn der Pater erzählt leise, dass diese Mädchen, die er auch in Bolivien kennengelernt hat, einige von vielen sind, die ihren Körper verkaufen, um Geld zu verdienen. Er hat noch andere Bilder, auf denen zum Beispiel zwei Jungen zu sehen sind, die nachts auf einer belebten Straße versuchen, Zigaretten oder Süßigkeiten zu verkaufen, oder ein Mädchen, das gerade auf dem Gehsteig mit einem Lappen die Schuhe eines erwachsenen Kunden putzt.

»Meine Heimat hat mir nie gefehlt«

»Wir fingen ganz einfach an, indem wir in einer Garage eine Notschlafstelle mit Matratzen und Wolldecken einrichteten, wo die Kinder zum Schlafen hinkommen konnten. Danach habe ich durch die Spenden aus Deutschland an das Projekt und aus meinem eigenen Geld die Möglichkeit bekommen, ein Haus zu bauen, sogar mit einem Speisesaal für 150 Kinder, einer therapeutischen Wohngemeinschaft und einem kleinen Pfarrhaus. Ich wohnte und schlief dort eineinhalb Jahre lang zusammen mit Kindern, von klein bis groß, die dort hinkamen. Selten habe ich mich so wohl und glücklich gefühlt. Das war eine einmalige Erfahrung und die schönste Zeit meines Lebens. Meine Heimat hat mir dabei auch nie gefehlt. Wir beteten zusammen, ich hielt Gottesdienste, wir haben zusammen gegessen, gespielt und auch viel Musik gemacht sowie gesungen. Wir haben immer viel Spaß zusammen gehabt und gelacht. All die Probleme erschienen einem plötzlich ganz klein. Dieses Leben mit den Kindern vermisse ich sehr.« Es fanden sich schnell sowohl bolivianische Mitarbeiter als auch freiwillige Helfer aus Deutschland, die das Projekt vor Ort unterstützten und auch mit den Kindern zusammenlebten. So sind es inzwischen acht Mitarbeiter, die in drei Teams einmal vormittags, nachmittags und nachts auf der Straße unterwegs und bei den Kindern sind und sie­­ versorgen.

Artikel vom 31.01.2012
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