von Katharina Niewalda

Bogenhausen · Dem Tod täglich zu begegnen

Bogenhausen · »Der Tod lässt sich nicht planen«, diese Aussage bestimmt das Leben von Andreas Müller-Cyran maßgeblich, denn der 48-jährige, hochgewachsene Notfallseelsorger kümmert sich um die Hinterbliebenen nach einem Todesfall, versucht ihnen zu helfen und die Last erträglicher zu machen. Der gelernte Rettungsassistent arbeitete früher im Rettungsdienst, im Krankenwagen oder Rettungshubschrauber, aber »oft kommt man einfach zu spät«.

12-teilige Reihe: Wir hinterfragen Geschichten

Manchmal reichen auch die medizinischen Möglichkeiten nicht mehr, doch das Resultat ist dasselbe. »Und wenn man schon dem Betroffenen nicht mehr helfen kann, sollte man dann nicht wenigstens sein Möglichstes tun, um es den Angehörigen, der Familie und den Freunden, leichter zu machen?«

Pionier bei der Krisenintervention

Er rief 1994 – als Erster in Deutschland und unterstützt vom Arbeiter-Samariter-Bund – die Krisenintervention ins Leben. »Ich hätte nie gedacht, dass meine Idee so viel Erfolg haben würde«, sagt er heute, »aber ich bin froh, dass sie von so vielen Menschen übernommen wurde.« »Heute arbeite ich nur noch ehrenamtlich für den ASB«, erklärt der Vater von zwei Kindern, denn eigentlich werde er von der katholischen Kirche, dem Bistum in München, bezahlt, für deren Notfallseelsorge er zuständig sei.

Die Krisenintervention ist mit der Notfallseelsorge der Kirche zu vergleichen. Beide kümmern sich um Menschen, die plötzlich mit dem Tod konfrontiert wurden, jedoch haben die Handelnden ein völlig anderes Selbstverständnis: Für den Seelsorger ist der Tod gleichzeitig auch eine Gotteserfahrung und er begründet seine Aufgabe damit, die Krisenintervention wird dagegen aus humanitären Gründen betrieben und denkt nur daran, die trauernden Menschen im Hier und Jetzt zu unter­stützen, doch »der Betroffene merkt das gar nicht«.

Es sei immer wieder herausfordernd, in solchen Situationen zu arbeiten, merkt er an, »man gewöhnt sich nie daran, es bleibt immer schwierig«. Aber die Lektüre, die er zu diesen Themen liest, bereitet wenigstens zum Teil auf die Realität vor, denn so versteht man, was die Menschen in diesen Situationen denken und fühlen. Vor Ort können sie es meist gar nicht erklären, die Situation ist viel zu unruhig und die Betroffenen zu aufgewühlt. »Da muss man die Verhaltensweisen eben deuten können.«

In der akuten Situation verändern sich die Menschen von einer Sekunde auf die andere: In dem Moment, in dem sie realisieren, was passiert ist, erscheine die Umgebung plötzlich unwirklich und man fühle sich, als ob man im Kino säße, erzählt der Notfallseelsorger mit den blaugrauen Augen, die sein Gegenüber aus seinem ovalen Gesicht heraus sympathisch anblicken. »Man hat den Eindruck, sich selbst beim Reden zuzuhören«, erzählt er, »die mentalen Prozesse werden aufgespalten.« Gefühle und Gedanken werden voneinander abgetrennt, weswegen auch die wenigsten Menschen in einer solchen Situation weinen oder schreien, sondern einfach sprachlos sind. Dies kann auch krankhaft werden, nämlich wenn der Zustand länger andauert. »Und genau dafür sind wir da, wir wollen den Betroffenen aus diesem Zustand herausholen und verhindern, dass es krankhaft wird.«

Der Notfallseelsorger lässt denjenigen spüren, dass er nicht alleine ist, und dass es da jemanden gibt, der ruhig ist und ihm helfen möchte. Aber der körperliche Kontakt geht nie über ein Handauflegen hinaus, denn »man weiß ja nicht, welche Erfahrungen der Mensch da vor mir schon gemacht hat«. Vor einiger Zeit hatte er einen Einsatz, bei dem ein sieben Wochen alter Säugling aufgehört hat zu atmen, dann zwar wiederbelebt werden konnte, aber klinisch hirntot war. »Deine Sichtweise verändert sich dadurch auch«, erklärt er. »Beim Frühstück fiel mir später der Kaffee um. Aber dann denkst du dir nur, du hättest es weitaus schlimmer treffen können, und bist froh, dass nur der Kaffee umgefallen ist.«

Der für ihn schrecklichste Einsatz war der Tsunami in Thailand im Jahr 2004, zu dem er nach Phuket reiste. »Es waren so viele Menschen betroffen«, sagt er traurig, »und meistens war das Einzige, was wir tun konnten, ihnen die Namen der Toten zu sagen und so die Ungewissheit, aber natürlich auch die Hoffnung zu nehmen.« Auch am 11. September 2001, als die Flugzeuge in New York in das World Trade Center gesteuert wurden, war er da, um den Betroffenen die Trauer zu erleichtern. »Da denkt man sich dann schon, zum Glück ist meine Familie zu Hause und in Sicherheit«, fügt er hinzu, spielt nachdenklich mit seinem Ehering und denkt dabei wohl sowohl an seine Frau als auch an seine beiden Kinder, die 16-jährige Pia und den 19 Jahre alten Jonas.

»Du musst immer voll da sein!«

Wenn er sich selber unsicher fühlt, kann er sich nicht so einbringen, wie er es gerne tun würde, denn »wenn du Angst haben musst, dass der Amokläufer noch frei herumläuft und es auch dich erwischen kann, kannst du dich nicht darauf konzentrieren, anderen zu helfen.« »Du musst voll da sein«, erklärt er, und selbst dann denke er sich hinterher manchmal noch, »da hättest du aber besser reagieren können« oder »hättest du da mal lieber die Klappe gehalten«. Und obwohl die tägliche Berührung mit dem Tod jedem zu schaffen machen würde, übt Andreas Müller-Cyran diesen Job weiter aus. Denn auch, wenn er nicht sagen kann, was danach kommt, so hält er sich an dem Gedanken fest: »Mit dem Tod ist doch noch lange nicht alles vorbei.«

Wir hinterfragen Geschichten

cr

Artikel vom 05.01.2012
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