XY ungelöst...? Aßlinger Physiker gibt Antworten

Aßling · Das Prinzip Chaos

Für den Physiker Johannes Nierwetberg bedeutet das Wort „Chaos“ nicht etwa Unordnung: Er denkt dabei eher an mathematische Formeln.	Foto: sf

Für den Physiker Johannes Nierwetberg bedeutet das Wort „Chaos“ nicht etwa Unordnung: Er denkt dabei eher an mathematische Formeln. Foto: sf

Aßling · Wenn Johannes Nierwetberg das Wort Chaos hört, denkt er nicht etwa an seinen Schreibtisch oder die Zimmer seiner Kinder. Dem promovierten Physiker kommen dann eher abstrakte Gebilde von Computer-Simulationen, Graphen und mathematische Formeln in den Sinn.

Denn der in Aßling lebende Wissenschaftler hat sich in den 80er-Jahren intensiv mit der Chaostheorie auseinandergesetzt, schrieb sowohl seine Diplom- als auch seine Doktorarbeit darüber – und ist noch heute begeistert von diesem Thema. „Vergangenes Jahr habe ich in Aßling einen Vortrag darüber gehalten und nach dem Feedback der Zuhörer ist es mir offenbar gelungen, es verständlich rüber zu bringen“, erzählt der 54-Jährige lächelnd und sucht in seinem Notebook die Präsentation. Auf dem Bildschirm erscheint eine Seite mit vielen kleinen Bildern: x-y-Achsen mit Kurven dazwischen, bunte, verzweigte Gebilde, die an Kristalle erinnern, ein Foto mit zuckenden Blitzen am schwarzen Himmel. „Das Wetter ist zum Beispiel ein chaotisches System“, erklärt Nierwetberg. Den Begriff Chaos dürfe man hier nicht gleichsetzen mit Unordnung. Die Chaosforschung untersuche vielmehr Vorgänge, die sich in Abhängigkeit von der Zeit nicht linear, das heißt nicht gleichmäßig oder streng periodisch, und somit unvorhersehbar entwickeln – wie eben das Wetter.

„Wetter und Klima sind sehr komplexe Systeme. Man braucht zur Berechnung viele Parameter. Ein einfacheres Beispiel ist der tropfende Wasserhahn“, sagt Nierwetberg. „Es gibt dazu einen Versuch: In einen nicht ganz zugedrehten Wasserhahn lässt man eine vorher definierte Menge Wasser einlaufen und misst dann den zeitlichen Abstand, in dem die Tropfen herunterfallen. Dabei wird man feststellen, dass der Hahn anfangs einigermaßen gleichmäßig tropft. Stellt man das Ganze graphisch dar mit X = Zeitabstand aufeinander folgender Tropfen und Y = Zeit, so fallen die Tropfen zunächst in schön regelmäßigem Zeitabstand.

Verstärkt man jedoch den Wasserzulauf, so fallen die Tropfen in immer unregelmäßigeren Rhythmen und die ,Wassermusik‘ wird chaotisch, die Zeitabstände unvorhersagbar und die ,Melodie‘ echt nervig.“ Chaotisches Verhalten liegt vor, wenn schon geringste Änderungen in den Anfangsbedingungen einer Bewegung später zu beliebig großen, nicht absehbaren Änderungen führen – kleine Ursache, große Wirkung.

Der 2008 verstorbene Meteorologe Edward N. Lorenz, der als „Vater der Chaostheorie“ gilt, prägte hier den berühmten Begriff des „Schmetterlingseffektes“: Der Schlag eines Schmetterlingsflügels im Amazonas-Urwald kann einen Orkan in Europa auslösen. „Lorenz meinte das nicht wörtlich, sondern es veranschaulicht nur, dass es unvorhergesehene Folgen haben kann, wenn man eine Kleinigkeit in den Anfangsbedingungen übersieht oder nicht berücksichtigt“, erklärt Nierwetberg.

Eigentlich kam er sowohl zum Physikstudium als auch zur Chaosforschung eher zufällig. „Mathe war in der Schule – ich ging damals in Fulda aufs Gymnasium - mein schwächstes Fach, ich hatte eine Drei. Aber ein Jahr vor dem Abitur wurden Kandidaten für ein Physik-Stipendium gesucht und ich bewarb mich. Im Auswahlgremium saß mir ein Patentrechtler aus Garching gegenüber, der mich fragte: ‚Wieso wollen Sie Physik studieren?‘ und ich sagte: ‚Mathe ist mein schwächstes Fach, aber ich sehe nicht ein, wieso man das nicht lernen kann. Ich bekam das Stipendium.“ Das war 1974, zwei Jahre später begann der gebürtige Mönchengladbacher sein Studium in Marburg, nach dem Vordiplom wechselte er nach Regensburg.

Hoher Spaßfaktor

„Dort lernte ich Professor Theo Geisel kennen, der von einem Forschungsaufenthalt in den USA zurückgekommen war, im Gepäck große Begeisterung für die Chaostheorie. Er hatte viele Pioniere der Chaostheorie getroffen, in Deutschland wurde dieses Forschungsgebiet noch mit Skepsis beäugt. Er bot mir eine Diplomarbeit an“, erzählt der Physiker. Als Nierwetberg 1981 damit begann, war die Zahl der Chaosforscher noch sehr überschaubar. „Es waren schillernde Persönlichkeiten darunter“, sagt Nierwetberg grinsend. „Der Spaßfaktor war hoch, denn man konnte sehr schnell spannende Ergebnisse erzielen und die eigene Neugier voll ausleben, anders als in anderen Bereichen.“

Spielbank gesprengt

Die Forschungsmethoden waren mitunter auch sehr unkonventionell. „Es gab zwei Chaosforscher, die mit selbst gebastelten Mini-Computern und Sendern in den Schuhen am Roulette-Tisch einer Spielbank das Verhalten der Kugel untersuchten und anschließend die Bank sprengten“, erzählt Nierwetberg. Sie gehörten später zu den Koryphäen im Bereich Chaosforschung.

In seinem beruflichen Alltag beschäftigt sich der dreifache Familienvater nicht mehr mit der Chaosforschung. Nach seinem Studium ging er 1985 nach München zu Siemens in die Forschung. „Damals gab es noch nicht so viele Informatiker und ich hatte den Vorteil, dass ich mich viel mit Computer-Simulationen befasst hatte.“

Bis 2009 leitete er das Fachzentrum „Diskrete Optimierung“ und sorgte mit mathematischen Methoden für höhere Produktivität bei Siemens. Inzwischen führt er eine Hundertschaft von Forschern bei Siemens in diesem Bereich. Seit 1997 wohnt er mit seiner Frau, seinen beiden Töchtern und seinem Sohn in Aßling. „In der Chaosforschung hat sich sehr viel geändert in den vergangenen Jahren und ich finde das Thema nach wie vor höchst spannend.“

Doch sein Interesse gilt auch anderen Bereichen. Als Mitglied des Arbeitskreises Kultur der Agenda 21 würde er gerne einen Vortrag mit Diskussion über die ungewollte Veröffentlichung von Informationen im Internet, zum Beispiel über Wiki-Leaks oder Facebook organisieren, gehalten von einem Jugendlichen.

Kettenreaktion unvorhersehbar

Bei näherem Hinsehen ist das Thema jedoch gar nicht so weit entfernt von der Chaostheorie. Schließlich kann niemand voraussehen, welche Kettenreaktionen solche Veröffentlichungen nach sich ziehen.

Von Sybille Föll

Artikel vom 24.03.2011
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